a) Allgemeines
Rz. 325
Der Selbstanfechtung von testamentarisch oder vertraglich bindend gewordenen Verfügungen durch den Erblasser selbst kommt in der Praxis einige Bedeutung zu. § 2281 Abs. 1 BGB gewährt dem Erblasser eine Anfechtungsmöglichkeit, deren Tatbestände grundsätzlich dieselben sind wie bei der Testamentsanfechtung, §§ 2281, 2078, 2079 BGB. Dies ist ein entscheidender Unterschied zum Anfechtungsrecht beim Einzeltestament. Dort kann der Erblasser jederzeit seine Erklärung widerrufen, deshalb hat er selbst kein Anfechtungsrecht; vielmehr kann dies nur Dritten zustehen. Dies hat andererseits aber auch zur Folge, dass der Erblasser einseitig im Erbvertrag (§ 2299 BGB) getroffene Verfügungen nicht anfechten kann, weil ihm insoweit ebenfalls die Widerrufsmöglichkeit offensteht (§ 2299 Abs. 2 BGB).
Da es beim Erbvertrag verschiedene Vertragstypen gibt, ist eine Einzelbetrachtung erforderlich. So geht das Gesetz im Allgemeinen vom einseitigen Erbvertrag aus (§ 2274 BGB), es kennt jedoch auch die Sonderform des Ehegattenerbvertrags (§§ 2280, 2292 BGB) und sonstige zweiseitige Erbverträge (§ 2298 BGB).
b) Einseitiger Erbvertrag; Selbstanfechtungsrecht des Erblassers
aa) Vertragliche Verfügungen von Todes wegen
Rz. 326
Mit erbvertraglich bindender Wirkung können nur Erbeinsetzung, Vermächtnis- und Auflagenanordnung sowie Rechtswahl vereinbart werden, § 2278 Abs. 2 BGB. Da nur insoweit eine vertragliche Bindung entstehen kann, kann sich das Selbstanfechtungsrecht des Erblassers auch nur auf solche Anordnungen beziehen. Sind die Regelungen im Erbvertrag zur Frage der Reichweite der Bindung nicht eindeutig, so muss die Frage, ob eine Bindung gewollt ist oder nicht, durch Auslegung ermittelt werden (§§ 133, 157 BGB). Es gibt auch Verfügungen, bezüglich derer der Erblasser sich einen Änderungsvorbehalt in den Vertrag hat aufnehmen lassen; solange von der Änderungsmöglichkeit kein Gebrauch gemacht wurde, ist die betreffende Verfügung bindend.
bb) Anfechtungsgründe
Rz. 327
Anfechtungsgründe können sein: Irrtum, Drohung oder Täuschung (§§ 2281 Abs. 1, 2078 BGB) oder das Übergehen eines Pflichtteilsberechtigten als vom Gesetz vermuteter Irrtum (§§ 2281 Abs. 1, 2079 BGB). Voraussetzung für eine Anfechtung wegen des Übergehens eines Pflichtteilsberechtigten ist aber, dass dieser zum Zeitpunkt der Anfechtung noch vorhanden ist, § 2281 Abs. 1 Hs. 2 BGB.
Anfechtung des Ehegatten-Erbvertrags nach der Trennung der Eheleute: Ist ein Rücktrittsrecht nicht vorbehalten (§ 2293 BGB) und liegen auch die Voraussetzungen für ein gesetzliches Rücktrittsrecht (§§ 2294, 2295 BGB) nicht vor, so kommt eine Anfechtung wegen Motivirrtums gem. §§ 2281, 2078 Abs. 2 BGB in Betracht. § 2281 Abs. 1 BGB gewährt dem Erblasser eine Anfechtungsmöglichkeit, deren Tatbestände grundsätzlich dieselben sind wie bei der Testamentsanfechtung, §§ 2281, 2078, 2079 BGB. Im Falle der Trennung der Eheleute ist die Tatsache der Trennung ein Irrtum über einen künftigen Umstand i.S.v. § 2078 Abs. 2 BGB (Annahme, man werde weiterhin nicht getrennt leben).
Rz. 328
Form und Frist der Anfechtung: Die Anfechtung muss durch den Erblasser persönlich erklärt werden, § 2282 Abs. 1 BGB; für einen geschäftsunfähigen Erblasser handelt der Betreuer mit Genehmigung des Betreuungsgerichts, § 1851 Nr. 4 BGB (bis 31.12.2022: § 2282 Abs. 2 Hs. 2 BGB a.F.). Die Anfechtungserklärung bedarf der notariellen Beurkundung, § 2282 Abs. 3 BGB, und muss zu Lebzeiten des Vertragspartners diesem gegenüber erklärt werden, § 143 Abs. 2 BGB, nach dem Tod des Vertragspartners gegenüber dem Nachlassgericht, § 2281 Abs. 2 BGB. Die Anfechtungsfrist beträgt ein Jahr, § 2283 Abs. 1 BGB, und beginnt im Falle eines Irrtums mit Kenntnis vom Irrtum, § 2283 Abs. 2 BGB, im Falle der Drohung mit Beendigung der Zwangslage.
Die Jahresfrist zur Anfechtung des Erbvertrags ist eine Ausschlussfrist. Sie kann weder verlängert noch kann gegen ihre Versäumung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden. Deshalb muss der Rechtsberater, der wegen einer in Betracht kommenden Anfechtung aufgesucht wird, rasch alle denkbaren Umstände aufklären.
Rz. 329
Die Anfechtungserklärung muss dem anderen Vertragsteil in Ausfertigung zugehen, beglaubigte Abschrift reicht nicht. Dies muss überwacht werden.
cc) Rechtswirkungen der Anfechtung
Rz. 330
Es gilt der allgemeine Grundsatz, wonach die wirksame Anfechtung zur Unwirksamkeit der Erklärung führt (§ 142 Abs. 1 BGB). Ist die Anfechtung in der erforderlichen Form und fristgemäß dem richtigen Anfechtungsgegner (§§ 143 Abs. 2, 2281 Abs. 2 S. 1 BGB) zugegangen, so ist eine Rücknahme nicht mehr möglich, weil sie als Gestaltungserklärung ihre Rechtswirkungen damit entfaltet hat; eine Bestätigung des Erbvertrags ist damit nicht mehr möglich (§ 2284 BGB).
c) Bestätigung eines anfechtbaren Erbvertrags
Rz. 331
Wurde ein eigentlich bestehendes Anfechtungsrecht nicht ausgeübt, so kann der anfechtbare Erbvertrag vom Erblasser bestätigt werden, § 2284 BGB. Die Möglichkeit einer Bestätigung nach § 2284 BGB erstreckt sich nur auf vertragliche Verfügungen, weil einseitige...