Prof. Dr. Thomas Reich, Prof. Dr. Ulrich Voß
Rz. 4
Unter dem Begriff des internationalen Steuerrechts ist zunächst einmal das nationale (deutsche) Steuerrecht zu verstehen, das sich mit der Besteuerung grenzüberschreitender Sachverhalte befasst. Das internationale Steuerrecht befasst sich dabei insbesondere auch mit den sich daraus ergebenden Konflikten, wenn verschiedene Staaten den gleichen Lebenssachverhalt besteuern wollen.
Rz. 5
Es gibt kein umfassendes einheitliches kodifiziertes internationales Steuerrecht, vielmehr ist zunächst für jeden beteiligten Staat zu untersuchen, welche nationalen Steuernormen er für Besteuerungsfälle mit Auslandsbezug vorsieht. Fälle einer völkerrechtswidrigen Besteuerung kommen kaum vor, da nahezu immer ein Anknüpfungsmerkmal (siehe oben Rdn 2 ff.) vorhanden sein dürfte.
Rz. 6
Europarechtlich wird das weite Anknüpfungsmerkmal "genuine link" (siehe oben Rdn 1) allerdings insoweit eingeschränkt, als es innerhalb der Europäischen Union insbesondere nicht zu Ungleichbehandlungen kommen darf. Fälle der europarechtswidrigen Diskriminierung wurden vom EuGH bereits häufiger festgestellt, was in der Praxis dazu führt, dass Regelungen des nationalen Steuerrechts zunehmend auf europarechtliche Vereinbarkeit geprüft und entsprechende nationale Rechtsvorschriften angepasst werden müssen. Nach früherer Rechtslage war es etwa so, dass der individuelle Freibetrag (§ 16 ErbStG a.F.), bspw. bei Ehegatten/eingetragenen Lebenspartnern von 500.000 EUR, nur dann zur Anwendung kam, wenn die Voraussetzungen der unbeschränkten Steuerpflicht vorliegen. Für beschränkt steuerpflichtige Erwerbe betrug dieser Freibetrag selbst bei Ehegatten/eingetragenen Lebenspartnern nur 2.000 EUR, ohne dass wie bei unbeschränkt Steuerpflichtigen zwischen diesen und Kindern differenziert wurde. Der EuGH hat in der Sache "Mattner" entschieden, dass verminderte Freibeträge für Schenkungen unter Gebietsfremden europarechtswidrig sind, da dies einen Verstoß gegen die durch Art. 63, 65 AEUV geschützte Kapitalverkehrsfreiheit darstellt. Der deutsche Gesetzgeber hat auf diese EuGH-Rechtsprechung reagiert und im Jahre 2011 in Fällen der beschränkten Steuerpflicht eine Optionsmöglichkeit zur unbeschränkten Erbschaft- oder Schenkungsteuerpflicht (§ 2 Abs. 3 ErbStG a.F.) eingeführt. Diese Neuregelung hat der EuGH allerdings wieder wegen der Beschränkung auf EU/EWR-Sachverhalte sowie der Zusammenfassung der Erwerbe über einen Zeitraum von 20 Jahren für unionsrechtswidrig erklärt. In Deutschland werden die nach Angehörigenverhältnis differenzierenden Freibeträge nunmehr stets unabhängig vom Umfang der Steuerpflicht gewährt, diese werden aber nach § 16 Abs. 2 ErbStG gemindert, falls der Erwerb mit anderen Erwerben innerhalb von zehn Jahren zusammenfällt, die nicht der unbeschränkten Steuerpflicht unterliegen. Der EuGH hat im Dezember 2021 die Vereinbarkeit von § 16 Abs. 2 ErbStG n.F. mit Unionsrecht angenommen; siehe dazu unten Rdn 118.
Rz. 7
Der EuGH entschied sogar, dass die wohnsitzabhängige Differenzierung des Freibetrags, nämlich wenn Erblasser und Erwerber zum Zeitpunkt des Erbfalls ihren Wohnsitz in einem Drittland, also außerhalb der EU (und des EWR), wie der Schweiz hatten, einen Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit darstellt.
Rz. 8
Ebenso wie die deutschen Regelungen haben die in Spanien geltenden Vorschriften, nach denen Gebietsansässige in den autonomen Gebietskörperschaften keine oder nur einen Bruchteil der sonst fälligen Erbschaftsteuer zahlen müssen, gegen EU-Recht verstoßen.
Rz. 9
Der EuGH hat zwar im Dezember 2021 die Vereinbarkeit von § 16 Abs. 2 ErbStG n.F. mit Unionsrecht angenommen, hat jedoch in seinem Urteil die bisherige Nichtabzugsfähigkeit von Verbindlichkeiten aus Pflichtteilen im Falle der beschränkten Steuerpflicht gemäß § 10 Abs. 6 ErbStG als unionsrechtswidrig beurteilt. Nach dem Beschluss des Bundeskabinetts vom 5.6.2024 soll durch Änderungen von § 10 Abs. 6 und Abs. 6b ErbStG eine anteilige Abzugsfähigkeit von Nachlassverbindlichkeiten auch in den Fällen der beschränkten Steuerpflicht möglich sein; siehe dazu unten Rdn 110.
Rz. 10
Die EuGH-Rechtsprechung nimmt damit in immer stärkerem Maße Einfluss auf die nationale Gesetzgebung, während völkerrechtliche Fragen ansonsten eher eine geringe Rolle spielen.