Rz. 82
Der Lieferort ist für die vertraglichen Verpflichtungen insofern von Bedeutung, als er bestimmt, in welchem Zeitpunkt die Verantwortung für die Ware von dem Verkäufer auf den Käufer übergeht (Gefahrübergang, vgl. dazu unten Rdn 97 ff.). Dies hat vorbehaltlich anderer Abreden oder Gebräuche Auswirkungen auf die Frage, wer (Verkäufer oder Käufer) welche Transportkosten oder Risiken zu tragen hat. Anhand der Vereinbarung eines bestimmten Lieferortes lässt sich ermitteln, welche Partei ggf. zu entrichtende Zölle oder Abgaben zu übernehmen sowie sich um erforderliche Export- bzw. Importgenehmigungen und Durchfuhrfreimachungen zu kümmern hat.
Rz. 83
In der Praxis ergibt sich der Lieferort in den meisten Fällen aus Absprachen zwischen Verkäufer und Käufer bzw. aus den einbezogenen AGB. Inhaltlich können die Parteien Vereinbarungen jeglicher Art treffen, ihnen sind dabei keinerlei Beschränkungen auferlegt. Typische Klauseln für die Bestimmung des Lieferortes sind die bereits angesprochenen INCOTERMS. Diese Bestimmungen in der seit dem 1.1.2020 geänderten Version unterscheiden ebenso wie die vorangegangene Fassung aus dem Jahre 2011 vier Gruppen:
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Nach den E-Klauseln (EXW) hat der Käufer die Ware bei dem Verkäufer abzuholen, |
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wird eine F-Klausel (FAS, FCA und FOB) vereinbart, so bestellt und bezahlt der Käufer den Hauptfrachtführer. Der Verkäufer ist lediglich verpflichtet, die Ware an den von dem Käufer beauftragten Frachtführer zu liefern. Die Beförderung der Ware bis zu dem bezeichneten Lieferort bzw. bis zu dem von dem Käufer benannten Frachtführer oder Transportterminal oder einer sonstigen Güteannahmestelle ist demzufolge Angelegenheit des Verkäufers, |
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bei den C-Klauseln (CFR, CIF, CPT und CIP) ist der Verkäufer verpflichtet, den Beförderungsvertrag bis zu dem benannten Bestimmungsort auf eigene Kosten abzuschließen. Allerdings ist auch bei diesen Klauseln der Lieferort – wie bei den F-Klauseln – dort, wo die Ware den Frachtführer des Haupttransportes übergeben wird. Der Lieferort und die Schnittstelle für die Kostentragung bzw. der Ort, an dem der Käufer die Ware zu übernehmen hat, fallen demzufolge auseinander. Diese Konstruktion ist mit dem deutschen Versendungskauf bzw. dem des Art. 31 Buchst. a) CISG vergleichbar, |
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als D-Klauseln (DAF, DES, DEQ, DDU und DDP) bezeichnet man sog. Ankunftsklauseln. Werden sie vereinbart, so ist der Verkäufer verpflichtet, für das Eintreffen der Ware an den bezeichneten Bestimmungsort Sorge zu tragen. Insoweit ist der Lieferort auf den Endpunkt des Haupttransportes verschoben, der Sache nach handelt es sich dabei um eine Bringschuld. |
Rz. 84
Sofern der Lieferort durch eine INCOTERM-Klausel oder eine sonstige zwischen dem Verkäufer und dem Käufer getroffene Absprache vereinbart wird oder sich aus den besonderen Umständen des konkreten Vertrages ergibt, tritt das UN-Kaufrecht zurück und beansprucht keine Geltung. Die Regelung des Art. 31 CISG kommt daher erst dann zur Anwendung, wenn sich andere Hinweise zur Bestimmung des Lieferortes nicht feststellen lassen.
Rz. 85
Art. 31 regelt in Buchst. a) CISG den Versendungskauf sowie in Buchst. b) und Buchst. c) sämtliche sonstige Gestaltungen. Letztere betreffen Fälle der Holschuld, in denen die Erfüllung des Kaufvertrages durch das bloße Zurverfügungstellen der Sache ohne Absenden möglich ist. Dabei differenzieren Buchst. b) und Buchst. c) hinsichtlich des Ortes der Leistungshandlung des Verkäufers.
a) Versendungskauf
Rz. 86
Art. 31 Buchst. a) CISG regelt den "Versendungskauf". Dieser ist in der Praxis vorherrschend. Um einen solchen handelt es sich, wenn nach dem Kaufvertrag zwar eine Beförderung der Ware erforderlich ist, diese selbst jedoch nicht mehr zu den Pflichten des Verkäufers zählt. Weil das UN-Kaufrecht typischerweise grenzüberschreitende Geschäfte erfasst, wird im Zweifel eine Beförderung der Ware erforderlich sein. Ein Versendungskauf liegt allerdings dann nicht vor, wenn die Parteien einen bestimmten Lieferort vereinbart haben, an dem der Verkäufer die Ware auszuliefern und der Käufer die Ware zu übernehmen hat (z.B. "ab Werk" oder "frei Haus"). Fallen jedoch der Lieferort und der Ort, an dem der Käufer die Ware zu übernehmen hat, auseinander, wurden keine besonderen Absprachen zwischen den Parteien zum Lieferort getroffen und ergibt sich ein solcher auch nicht aus den sonstigen Umständen des Geschäfts, so wird im Zweifel von einem Versendungskauf i.S.d. Art. 31 Buchst. a) CISG auszugehen sein. Die bloße Angabe einer Lieferadresse stellt keine Abänderung des Lieferortes nach Art. 31a) CISG dar.
Rz. 87
In den Anwendungsbereich der Vorschrift fällt allerdings nicht der Transport durch den Verkäufer selbst bzw. durch eigene Leute.
Rz. 88
Beim Versendungskauf hat der Verkäufer nach Art. 32 Abs. 2 CISG die üblichen zur Beförderung erforderlichen Verträge abzuschließen. Nicht zu seinen Lasten gehen allerdings die Kosten der Beförderung. Mit Übergabe der Waren an den ersten Beförderer hat der Verkäufer seine vertraglichen Pflichten er...