Rz. 216
Es gab Anrechnungsprobleme, wenn der RA vor bzw. außergerichtlich mehrere Auftraggeber vertreten hat. Wurden mehrere Auftraggeber vertreten, ist die Anrechnungsvorschrift in Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG nicht eindeutig. Fraglich ist, ob nur die "erhöhte" einheitliche Gebühr mit lediglich 0,75 angerechnet wird. Die Geschäftsgebühr kann durch die Erhöhung bis zu 4,5 betragen (2,5 + 2,0 Erhöhung gem. Nr. 1008 VV RVG).
Beispiel:
Der RA vertritt vier Auftraggeber in einem vorgerichtlichen Verfahren. Er bestimmt den Gebührensatzrahmen der Geschäftsgebühr mit der Regel-/Schwellengebühr von 1,3. Durch die Vertretung mehrerer Auftraggeber erhöht sich die Geschäftsgebühr (3 × 0,3: für die drei zusätzlichen Auftraggeber) auf 1,3 + 0,9 = 2,2.
Dem Wortlaut der Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG folgend, wären von der Anrechnung jetzt lediglich 0,75 erfasst, sodass 1,45 als Gebührenrest von der Geschäftsgebühr nach Anrechnung verbliebe (Auffassung von Hansens, RVGreport 2004, 95). Das KG (Berlin) hat als erstes OLG diese Auffassung bestätigt. Der BGH hat diese Auffassung bestätigt (BGH, 28.7.2010 – XII ZB 251/10).
Rz. 217
Für das sich anschließende gerichtliche Verfahren, in dem die Verfahrensgebühr der Nr. 3100 VV RVG entsteht, berechnet der RA erneut die Erhöhung für mehrere Auftraggeber gem. Nr. 1008 VV RVG. Daraus ergäbe sich, dass der RA über die Anrechnungsregelung in der Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG die "Erhöhung" der Gebühren für mehrere Auftraggeber in einer Angelegenheit mehrfach fordern könnte.
Rz. 218
Die zutreffende Auffassung von Hansens (u.a. in RVGreport 2004, 95 mit Beispielen zur Geschäftsgebühr bei mehreren Auftraggebern und der entspr. Anrechnung) geht davon aus, dass für die Anrechnung der durch mehrere Auftraggeber erhöhte Gebührensatzrahmen zugrunde zu legen ist, sodass der erhöhte Gebührensatzrahmen bei der Anrechnung auf 0,75 beschränkt ist. Er vertritt die Auffassung, dass wie im obigen Beispiel (Rdn 144) zu verfahren sei. Der Rest der Geschäftsgebühr, der nach Anrechnung verbleibe, sei demnach immer dann höher, wenn der RA mehrere Auftraggeber vertritt. Nach Auffassung von Hansens hat die Erhöhung gem. Nr. 1008 VV RVG zur Folge, dass dem RA nach Durchführung der Gebührenanrechnung um so mehr verbleibe, je höher die Geschäftsgebühr sei, insbes. bei Vertretung mehrerer Auftraggeber. Dieser Auffassung schließe ich mich an (so auch: Mayer, RVG-Letter 2004, 87 m.w.N.). Dieser Ansicht haben sich das OLG Düsseldorf (Az. 22 S 439/06, AGS 2007, 381 ff.); LG Düsseldorf (RVGreport 2007, 298 f. = AGS 2007, 381 m. zust. Anm. Schons), das LG Ulm (AGS 2008, 163 f.) sowie das AG Stuttgart (AGS 2007, 385; AGS 2008, 78 f. = RVGreport 2008, 21 f.) angeschlossen und festgestellt, dass die Anrechnung der Geschäftsgebühr auch bei mehreren Auftraggebern auf 0,75 begrenzt bleibt. Weder wird die Erhöhung als solche angerechnet, noch erhöht sich die Anrechnungsgrenze analog Nr. 1008 VV.
Beispiel:
Nach dieser Auffassung rechnet der RA, wenn bei der Anrechnung für den Gebührensatz nicht auf die Gebühr ohne Erhöhung gem. Nr. 1008 VV RVG abgestellt wird, 2,2 Geschäftsgebühr nach Nrn. 2300, 1008 VV RVG sowie 2,2 Verfahrensgebühr nach Nrn. 3100, 1008 VV RVG abzüglich 0,75 Anrechnung der Geschäftsgebühr (Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG), also insgesamt 3,65 "Betriebsgebühren" ab.
Ohne zusätzliche Auftraggeber berechnet der RA 1,3 Geschäftsgebühr Nr. 2300 VV RVG sowie 1,3 Verfahrensgebühr Nr. 3100 VV RVG abzüglich 0,65 Anrechnung der Geschäftsgebühr (Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG), also insgesamt 1,95 "Betriebsgebühren".
Es verbleiben:
1,45 Restgeschäftsgebühr
1,3 Verfahrensgebühr
0,9 Erhöhung gem. Nr. 1008 VV RVG
insgesamt verbleiben damit 3,65 "Betriebsgebühren" im Ausgangsfall.
Andere Darstellung unter Berücksichtigung der BGH Rechtsprechung zur Anrechnung:
2,2 Geschäftsgebühr
0,55 Verfahrensgebühr
0,9 Erhöhung gem. Nr. 1008 VV RVG = 3,65 "Betriebsgebühren"
Die hier gezeigte Auffassung ist zutreffend, da die Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG wörtlich auszulegen ist. Hier bleibt die Entwicklung der weiteren Rechtsprechung abzuwarten. Da aber der BGH bisher die Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG für den Fall der Anrechnung "wörtlich" auslegt, ist zu vermuten, dass dies auch gelten wird, wenn über die Frage der Anrechnung bei mehreren Auftraggebern zu entscheiden ist.