Rz. 2
Sowohl das Reichsgericht als auch der Bundesgerichtshof haben dem potenziell Pflichtteilsberechtigten die Möglichkeit eröffnet, noch zu Lebzeiten des Erblassers klären zu lassen, ob bestimmte Vorfälle für ihn zum Verlust des Pflichtteils führen. Obwohl lediglich als künftiges, erst nach dem Erbfall entstehendes schuldrechtliches Forderungsrecht ausgestaltet, begründet das Pflichtteilsrecht schon zu Lebzeiten des Erblassers zwischen diesem und dem Pflichtteilsberechtigten ein Rechtsverhältnis, das schon vor dem Tod rechtliche Wirkungen äußert und gerichtlich festgestellt werden kann. Der BGH hat mit Urteil vom 10.3.2004 nicht nur dieses Rechtsverhältnis zu Lebzeiten des Erblassers, sondern auch ein dahingehendes prozessuales Feststellungsinteresse desjenigen Pflichtteilsberechtigten, zu dessen Lasten eine Pflichtteilsentziehung angeordnet wurde, bejaht (negative Feststellungsklage zu Lebzeiten des Erblassers). Er stützt seine Ansicht auf § 2337 S. 1 BGB, woraus dem Erblasser die Befugnis als gegenwärtiges und nicht erst ein vom Tod des Erblassers abhängiges zukünftiges Recht erwächst.
Rz. 3
Die Entwicklung der BGH-Rechtsprechung:
(1) Aus prozessökonomischen Gründen hatte der BGH eine negative Feststellungsklage im Fall BGHZ 109, 306 zugelassen. Hier hatten in einem gemeinschaftlichen Testament Eltern ihrem Sohn sowohl auf den Tod des Erststerbenden von ihnen als auch auf den Tod des Überlebenden den Pflichtteil entzogen. Der Sohn hatte nach dem Tod des zuerst verstorbenen Vaters gegen seine (allein erbende) Schwester auf Feststellung der Unwirksamkeit der Pflichtteilsentziehung durch den Vater geklagt und außerdem gegen seine noch lebende Mutter auf Feststellung der Unwirksamkeit der Pflichtteilsentziehung durch diese noch lebende Erblasserin.
Aus prozessökonomischen Gründen sah es der BGH als geboten an, die Feststellungsklage auch gegen die noch lebende Mutter für zulässig zu erachten.
Rz. 4
(2) Mit dem Urteil vom 10.3.2004 hat der BGH die Klagebefugnisse des Pflichtteilsberechtigten zu Lebzeiten des Erblassers gegenüber seiner bisherigen Rechtsprechung ausgedehnt. Schon bisher hatte der BGH darauf hingewiesen, dass das Pflichtteilsrechtsverhältnis ein gegenwärtiges und nicht erst zukünftig entstehendes Rechtsverhältnis sei. Damit konnte eine entscheidende Voraussetzung für ein akutes Feststellungsinteresse und die Zulässigkeit einer Feststellungsklage bejaht werden: die Existenz eines gegenwärtigen und nicht erst künftig entstehenden Rechtsverhältnisses.
Bejaht man ein Feststellungsinteresse des Pflichtteilsberechtigten, so ist eine Abwägung zwischen diesem Interesse und dem Interesse des Erblassers vorzunehmen, nicht schon zu Lebzeiten in einen Rechtsstreit über seinen dereinstigen Nachlass hineingezogen zu werden.
Rz. 5
Der BGH hat dem Interesse des Pflichtteilsberechtigten über die Klarheit seines Pflichtteilsrechts den Vorzug gegeben und stützt dies darauf, dass der PT-Berechtigte mit einem Dritten einen Vertrag gem. § 311b Abs. 5 BGB über seinen Pflichtteil oder einen Pflichtteilsverzichtsvertrag gem. § 2346 Abs. 2 BGB mit dem Erblasser schließen können muss. Andererseits muss auch dem Erblasser im Hinblick auf seine Testierfreiheit und seine Testiermöglichkeiten daran gelegen sein, die Frage der Berechtigung einer Pflichtteilsentziehung endgültig zu Lebzeiten klären zu lassen.
Rz. 6
Interesse des Erblassers (und der künftigen Erben als Pflichtteilsschuldner) an einer Klärung: Letztlich geht es auch um einen etwaigen Verlust von Beweismitteln. In einem Rechtsstreit nach dem Tod des Erblassers haben die Erben (als Beklagte des gegen sie geltend gemachten Pflichtteilsanspruchs) möglicherweise weder genaue Kenntnis von dem vorgefallenen Sachverhalt noch verfügen sie über die erforderlichen Beweismittel, während dies dem Erblasser sicher leichter fällt.
Hinweis
Es geht nicht um das Pflichtteilsrecht des klagenden Pflichtteilsberechtigten im Allgemeinen, sondern lediglich darum, ob ein konkreter Vorfall den Erblasser berechtigt, eine Pflichtteilsentziehung zu verfügen.