Rz. 6
In der Praxis kommen relativ häufig Fälle von Besitzstörungen unterschiedlichster Art vor. So meinen Personen gelegentlich, sich ohne Einschaltung der Justiz "ihr vermeintliches Recht" im Wege der Selbsthilfe holen zu dürfen. Die sog. "Selbstjustiz" ist allerdings fast immer unzulässig. Ein klassischer Beispielsfall unzulässiger Selbstjustiz geht dahin, dass der Vermieter dem Wohnungsmieter, der trotz Kündigung nicht aus der Mietwohnung zieht, in dessen kurzzeitiger Abwesenheit kurzerhand die Wohnung räumt bzw. von Dritten räumen lässt, das Türschloss auswechselt und den gesamten Besitzstand des Mieters vor die Haustür stellt oder an anderer Stelle deponiert. Nicht selten sind auch die Fälle, bei denen der/die alleinige Mieter(in) einer Wohnung beim Abbruch der Beziehung zu seiner/ihrem seit mehreren Jahren bei ihm/ihr wohnenden Lebensgefährtin/-en deren/dessen Sachen vor die Wohnung räumt und das Türschloss auswechselt. Bei derartigen Fallkonstellationen müssen zwei Fragen strikt voneinander getrennt werden: zum einen diejenige, ob jemand zu Recht Besitz an einer Sache hat, und zum anderen die Frage, ob man einer Person, die ein solches Besitzrecht wirklich oder vermeintlich nicht hat, den Besitz eigenmächtig entziehen darf. Die Beantwortung der ersten Frage hängt von den jeweiligen Umständen des Einzelfalles ab, weswegen sie hier nicht erörtert werden soll. Die zweite Frage wird von den Besitzschutzvorschriften der §§ 858 ff. BGB sowie der §§ 230, 231 BGB geregelt. Danach ist die Privatjustiz nur in engen Grenzen ausnahmsweise zulässig, nämlich nur dann, wenn obrigkeitliche, also insbesondere polizeiliche oder gerichtliche Hilfe nicht rechtzeitig zu erlangen ist und ohne sofortiges Eingreifen die Gefahr bestünde, dass eine spätere Rechtsgewährung nicht mehr oder nur eingeschränkt möglich wäre. Der grundsätzliche Ausschluss der Privatjustiz ist berechtigt, weil in der Rechtspraxis die Frage, wer Recht oder einen Anspruch hat, von mehreren Personen nicht selten unterschiedlich eingeschätzt wird und jede Person die Möglichkeit hat, zur Durchsetzung ihrer vermeintlich bestehenden Ansprüche den Rechtsweg zu beschreiten. Man spricht insoweit von dem sog. Justizgewährungsanspruch des Einzelnen als Ausfluss des rechtlichen Entscheidungsmonopols des Staates. Die gerichtlichen Entscheidungen können notfalls, also wenn sie nicht beachtet werden, im Wege der staatlichen Zwangsvollstreckung durchgesetzt werden. Liegen die engen Voraussetzungen für ein Selbsthilferecht im Einzelfall einmal vor, dann darf die berechtigte Selbsthilfe nicht über das "Ziel hinausschießen", sie darf also wirklich nur so weit gehen, wie dies zur Abwendung der fraglichen Gefahr tatsächlich erforderlich ist.
Beispiel:
Den auf frischer Tat erwischten Dieb darf man vorläufig festnehmen (§ 127 Abs. 1 StPO) und ihm auch den Besitz am erbeuteten Diebesgut wieder wegnehmen. Unzulässig wäre es hingegen, die Polizei nicht einzuschalten und den Dieb eigenmächtig erst einmal eine Zeit lang festzusetzen oder gar zu verhören.
Auch in den zuvor gebildeten Beispielsfällen aus dem Mietrecht wurde jeweils widerrechtlich eigenmächtig gehandelt, da in beiden Fällen rechtlich problemlos – wenn vielleicht auch mühsam – der Rechtsweg hätte beschritten werden können. Daher haben die Personen, die in dieser Form widerrechtlich "vor die Tür" gesetzt wurden, Anspruch darauf, dass ihnen zumindest bis zur gerichtlichen Klärung der Frage ihrer dauerhaften Besitzberechtigung der Besitz an der betreffenden Mietwohnung wieder eingeräumt wird (vgl. Folgeseite: Muster einer Klage auf Wiedereinräumung des Besitzes); sie hätten, wenn sie die verbotene Eigenmacht während der Ausführung bemerkt hätten, diese notfalls mit Gegengewalt verhindern dürfen (§ 859 Abs. 1 BGB).
Rz. 7
Wer irrtümlich glaubt, zur Selbsthilfe befugt zu sein, oder – wie beschrieben – die Grenzen erlaubter Selbsthilfe überschreitet, haftet dem Betroffenen gem. § 231 BGB für dessen Schaden und zwar sogar dann, wenn er seinen Irrtum in der konkreten Situation nicht vermeiden konnte. Wer Selbsthilfe übt, trägt also immer das Risiko, dass er hierzu gar nicht oder nicht in dieser Form berechtigt ist. Auch hierdurch wird darauf hingewirkt, dass im Konfliktfall im Zweifel lieber der "friedliche" Weg unter Einschaltung der Gerichte gewählt wird. Sofern jemand einem anderen dessen Besitz im soeben erläuterten Sinne widerrechtlich entzieht, handelt er in verbotener Eigenmacht (§ 859 Abs. 1). Dieser verbotenen Eigenmacht darf sich der Besitzer gem. § 860 Abs. 1 und Abs. 2 mit Gewalt, also im Wege der Selbsthilfe, erwehren. Ist der Besitz bereits entzogen, dann kann gem. § 861 BGB auf Wiedereinräumung des Besitzes geklagt werden, hier darf die widerrechtlich entzogene Sache also nicht mehr im Wege der Selbsthilfe zurückgeholt werden. Wird der Besitz nicht vollständig entzogen, sondern nur gestört, etwa dadurch, dass jemand wiederholt auf dem Privatgrundstück eines anderen seinen Pkw abstellt, dann hat der Besitzer Anspru...