Dr. Michael Nugel, Sebastian Gutt
Rz. 138
Der "130 % Fall"
Die Reparaturkosten liegen oberhalb des Wiederbeschaffungswertes, betragen aber nicht mehr als 130 % desselben. Liegen die Reparaturkosten über dem Wiederbeschaffungswert, so liegt grundsätzlich ein wirtschaftlicher Totalschaden vor, bei dem der Geschädigte wie auf der zweiten Stufe grundsätzlich lediglich den Wiederbeschaffungsaufwand ersetzt erhält. Maßgeblich ist auch hier die Gegenüberstellung der jeweiligen Brutto-Werte inkl. Mehrwertsteuer, es sei denn, der Geschädigte ist zum Vorsteuerabzug berechtigt. Zu den Reparaturkosten ist ggf. der merkantile Minderwert aufzuschlagen.
Rz. 139
Muster 8.38: Gegenüberstellung der Netto-Werte bei Vorsteuerabzugsberechtigung
Muster 8.38: Gegenüberstellung der "Netto-Werte" bei Vorsteuerabzugsberechtigung
Die notwendige Vergleichsbetrachtung der Reparaturkosten einerseits und des Wiederbeschaffungswertes andererseits hat sich vorliegend an den jeweiligen "Netto-Werten" unter Ausschluss der Mehrwertsteuer zu orientieren. Zwar hat der BGH in seiner Entscheidung vom 3.3.2009 (VI ZR 100/08 = NJW 2009, 119) entschieden, dass bei dieser Vergleichsbetrachtung grundsätzlich auf die Brutto-Werte abzustellen ist, da diese bei einer tatsächlichen Instandsetzung des Fahrzeugs auch anfallen würden. Dies ist vorliegend jedoch nicht der Fall. Meine Mandantschaft betreibt ein Gewerbe, für welches das verunfallte Fahrzeug genutzt wird und ist daher im vorsteuerabzugsberechtigt. Bei der Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes würde daher auch keine Mehrwertsteuer anfallen. Für diesen Fall hat der BGH in einem obiter dictum in der oben genannten Entscheidung anschaulich dargelegt, dass allein die "Netto-Werte" maßgeblich sind.
Rz. 140
Dem Geschädigten wird auf der dritten Stufe jedoch ausnahmsweise gestattet, auf Basis der Reparaturkosten abzurechnen, wenn er das verunfallte Fahrzeug nach Vorgabe des Gutachtens vollständig und fachgerecht reparieren lässt und i.d.R. für einen Zeitraum von sechs Monaten weiter nutzt.
Die Rechtsprechung begründet die Zulässigkeit dieser nach wirtschaftlichen Grundsätzen eigentlich "unvernünftigen" Reparatur mit dem schützenswerten Integritätsinteresse des Geschädigten, welches über den reinen "Marktwert" hinausgehe. Die Rede ist in diesem Zusammenhang auch vom sog. Integritätszuschlag. Die Frist von sechs Monaten hat dabei nur eine beweismäßige Bedeutung für den Nachweis des besonderen Integritätsinteresses, stellt aber keine Fälligkeitsvoraussetzung dar. Dies bedeutet, dass der Kfz-Haftpflichtversicherer bei dem Nachweis einer fachgerechten Reparatur die Reparaturkosten innerhalb der 130 %-Grenze erst einmal zu ersetzen hat. Dies wird häufig jedoch unter einem Rückforderungsvorbehalt geschehen. Im Gegenzug wird dem Versicherer nach der Auszahlung ein Auskunftsanspruch gegenüber dem Geschädigten nach Ablauf der sechs Monate zustehen. Verweigert der Geschädigte eine Auskunft dazu, ob der das Fahrzeug weiter in Besitz hat, muss er ggf. mit einer Stufenklage des Versicherers rechnen, die sich zuerst auf eine Auskunft und ggf. auf der zweiten Stufe auf ein Rückzahlungsbegehren stützt.
Rz. 141
Muster 8.39: Auskunftsanspruch gegenüber dem Geschädigten nach Ablauf von sechs Monaten
Muster 8.39: Auskunftsanspruch gegenüber dem Geschädigten nach Ablauf von sechs Monaten
Bei dem hiesigen Unfall vom _________________________ ist seitens meiner Mandantschaft unter dem _________________________ eine Auszahlung der Reparaturkosten in Höhe von _________________________ EUR unter Rückforderungsvorbehalt erfolgt. Diese Auszahlung hat der BGH ausdrücklich gebilligt (BGH, Beschl. v. 18.11.2008 – VI ZB 22/08 = NJW 2009, 910). Im Gegenzug steht meiner Mandantschaft nunmehr ein Auskunftsanspruch im Hinblick darüber zu, ob der reparierte Pkw bis zu dem Ablauf des Zeitraums von sechs Monaten genutzt worden ist bzw. weiterhin genutzt wird. Nur vorsorglich wird darauf hingewiesen, dass allein die Tatsache, dass das Fahrzeug weiter im Eigentum bzw. Besitz befindlich ist als Nachweis einer erforderlichen Nutzung nicht genügt (OLG Rostock, Urt. v. 23.10.2009 – 5 U 275/08 = BeckRS 2009, 88813). Der Nachweis einer Nutzung kann daher auch nicht mit einer Zulassungsbescheinigung geführt werden. Zur Vermeidung einer ansonsten gebotenen Stufenklage mit einem vorrangigen Auskunftsbegehren wird um Stellungnahme mit einem konkreten Nachweis der weiteren Nutzung binnen 14 Tagen bis zum _________________________ gebeten.
Rz. 142
Die Weiternutzung für sechs Monate ist auch nur im Regelfall ein ausreichendes Indiz für ein bestehendes Integritätsinteresse. Es sind zahlreiche Fallgestaltungen denkbar, bei denen die Nutzung des Fahrzeugs aus besonderen Gründen bereits lange vor Ablauf der Sechsmonatsfrist eingestellt wird.
Rz. 143
Muster 8.40: Begründung der Aufgabe des Fahrzeugs vor Ablauf der Sechsmonatsfrist
Muster 8.40: Begründung der Aufgabe des Fahrzeugs vor Ablauf der Sechsmonatsfrist
Auch wenn vorliegend das verunfallte Fahrzeug nach der fachge...