Rz. 64
Der Geschädigte muss auch die Möglichkeit haben, das Fahrzeug zu nutzen. Sie entfällt z.B., wenn der Geschädigte durch den Unfall derart verletzt worden ist, dass er ein Kraftfahrzeug – ganz oder auch nur vorübergehend – nicht mehr führen kann (BGH VersR 1966, 497; BGH VersR 1985, 736 = zfs 1985, 296; KG NZV 2006, 157) = DAR 2006, 151). Das gilt selbstverständlich auch bei unfallunabhängiger – aber unmittelbar nach dem Unfall aufgetretener – Erkrankung (OLG München VersR 1991, 324; LG Berlin zfs 1991, 46).
Rz. 65
Allerdings gilt das nicht, wenn der Geschädigte den Nachweis erbringt, dass das Fahrzeug gleichermaßen und regelmäßig nach einer vor dem Unfall getroffenen Zweckbestimmung von einem Familienangehörigen oder einem – nicht unbedingt nahe stehenden – Dritten (z.B. Car-Sharing) mitbenutzt wird (OLG Oldenburg zfs 1988, 73; OLG Frankfurt DAR 1995, 23; OLG Düsseldorf DAR 2011, 580; LG Oldenburg NZV 2020, 53). Nach insoweit einschränkender Auffassung soll der Anspruch bei einem nicht zum Kreis der Familienangehörigen zählenden Dritten eine vor dem Unfall mit dem Fahrzeugeigentümer getroffene Vereinbarung voraussetzen (KG NZV 2006, 157 = VersR 2006, 806 [nur Leitsatz]), was dann nachgewiesen werden muss.
Rz. 66
Tipp
Wenn nachweislich nur ein Fahrzeug in der Familie vorhanden ist, kann der Mitbenutzungsnachweis durch Vorlage einer Fotokopie des Führerscheins des Ehepartners oder der Kinder geführt werden. Danach sollte schon beim ersten Mandatsgespräch gefragt und die Fotokopie dem Schreiben an den Versicherer sogleich beigefügt werden, um die Diskussion darüber gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Rz. 67
Tipp
Aber auch dann, wenn der Familienangehörige nicht über eine Fahrerlaubnis verfügt, besteht eine Mitbenutzungsmöglichkeit in der Form, als Beifahrer von dem unfallbedingt verletzt ausgefallenen Fahrer – wie zuvor auch stets – dorthin gefahren zu werden, wohin der Beifahrer (z.B. Ehegatte) auf seinen jeweiligen Wunsch gefahren werden möchte. Das Bestehen einer Fahrerlaubnis entscheidet also nicht darüber, ob ein Nutzungswille besteht oder nicht.
Rz. 68
Streit herrscht immer wieder über die Frage, ob der Geschädigte mit den von ihm erlittenen Verletzungen hätte Kraftfahrzeuge führen können. Dabei wird der Begriff des "Führen-Könnens" oft mit dem des "Führen-Dürfens" verwechselt (vgl. auch Rdn 201).
Rz. 69
Mit einem Gipsbein oder -arm darf der Geschädigte – aus medizinischer Sicht und allgemeinen Sicherheitsgesichtspunkten heraus – sicherlich nicht fahren. Er kann damit zweifelsfrei auch nicht Motorrad oder Fahrrad fahren. Er kann aber ggf. einen Pkw fahren, wenn z.B. sein linkes Bein betroffen und das Fahrzeug mit Automatikgetriebe ausgestattet ist. Bei Anmietung eines Ersatzfahrzeugs ist der Beweis des "Führen-Könnens" unmittelbar erbracht. Bei der Geltendmachung von Nutzungsausfall müsste der Beweis ggf. noch erbracht werden.
Rz. 70
Problematisch ist immer die Frage des Fahrens mit einer Schanz’schen Krawatte. Auch wenn die Ärzte eine Fahrfähigkeit oftmals verneinen, ist es natürlich möglich, trotz Schanz’scher Krawatte Auto zu fahren, was schon die im Wartezimmer der Kanzlei sitzenden, mit einem Miet- oder Zweitwagen angereisten Mandanten mit offensichtlichem HWS-Schleudertrauma beweisen. Ein solches "ärztliches Verbot" ist auch nicht anders zu sehen als die immer wieder verordnete "Bettruhe": Der Patient soll zwar nicht aufstehen, kann das aber zweifelsfrei sehr wohl tun. Es handelt sich bei solchen ärztlichen Verordnungen ganz offenkundig lediglich um vorsorgliche Empfehlungen und nicht etwa um Feststellungen einer tatsächlichen Unmöglichkeit. Daher lässt sich auch allein aus dem Umstand der Krankschreibung die fehlende Nutzungsmöglichkeit nicht herleiten.
Rz. 71
Diese Frage muss also stets individuell dargelegt und gut begründet werden, wobei sich der Anwalt nicht mit pauschalen Hinweisen auf angebliche Rechtsprechung beeindrucken lassen sollte. Eine in der Kanzlei vorgehaltene (Digital-)Kamera ermöglicht die Beweisführung, indem man den anlässlich der Mandatierung gegenübersitzenden Mandanten fotografiert und das Foto mit einem Datum und der anwaltlichen Bestätigung versehen, der Anwalt habe mit eigenen Augen gesehen, wie der Mandant mit dem Fahrzeug weggefahren ist, an den Versicherer schickt.
Rz. 72
Eine Nutzungsmöglichkeit für den Geschädigten besteht dann nicht, wenn der unfallbeschädigte Pkw nicht (mehr) versichert ist und demzufolge auch nicht (mehr) genutzt werden darf oder dem Geschädigten aus Anlass des Unfalls bzw. danach die Fahrerlaubnis entzogen worden ist.
Rz. 73
Auch wenn der Geschädigte unmittelbar nach dem Unfall eine Flugreise geplant hatte, entfällt die Nutzungsmöglichkeit für den Zeitraum der Abwesenheit.