Rz. 186
§ 27 Satz 2 VersAusglG bestimmt ausdrücklich, dass in jedem Fall alle Umstände des Einzelfalles in die Betrachtung einbezogen werden müssen, um zu entscheiden, ob es geboten ist, von dem Grundsatz der Halbteilung abzuweichen. Gemeint ist damit, dass in jedem einzelnen Fall eine Gesamtabwägung aller persönlichen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse beider Ehegatten.
Rz. 187
Dass eine umfassende Interessenabwägung vorgenommen werden muss, bedeutet umgekehrt, dass das Gericht auch alle Tatsachen ermitteln muss, die für diese Abwägung von Bedeutung sind. Dazu gehört v.a. auch, in welcher Weise ein Versorgungsausgleich an sich durchgeführt werden müsste. Die Härteklausel kann erst dann angewendet werden, wenn feststeht, welche Anrechte in welcher Weise ausgeglichen werden, denn nur dann kann in die Billigkeitsprüfung hinreichend sicher eingestellt werden, was das Erwirtschaftete ist, dessen Ausgleich ausgeschlossen werden soll. Das kann durchaus Bedeutung in Bezug auf den Umfang und das Gewicht der Gründe haben, die vorliegen müssen, damit es zu einem teilweisen oder vollständigen Ausschluss des Versorgungsausgleichs kommt. Nur in Fällen, in denen es eindeutig erscheint, dass keinerlei Versorgungsausgleich vorgenommen werden muss, gleichgültig wie hoch die an sich auszugleichenden Anrechte sind, darf die Ermittlung der Anrechte vor der Anwendung der Härteregelung unterbleiben. Das ist etwa denkbar, wenn es um schwerwiegende persönliche Verfehlungen des einen Ehegatten gegen den anderen geht (z.B. Tötungsversuch).
Rz. 188
Für die Beurteilung des Härtefalls relevant sind daneben die Vermögensverhältnisse der Ehegatten während der Ehe – und zwar nicht nur der Bestand am Ende der Ehezeit, sondern auch die Entwicklung, welche die beiderseitigen Vermögen im Laufe der Ehe genommen haben. Wichtig ist also einerseits die Erhebung des Vermögensbestandes (sowohl des aktiven wie des passiven Vermögens) unter der Berücksichtigung der Durchführung eines güterrechtlichen Ausgleichs wegen des Endes der Ehe als auch die Feststellung der Vermögensverschiebungen, die sich im Laufe der Ehe ergeben haben; sei es, dass die Eheleute untereinander Vermögen ausgetauscht haben, sei es, dass es an Dritte abgeflossen ist oder von Dritten zugewendet wurde. Selbst Aussichten auf Vermögenserwerb (z.B. voraussichtlich anfallende Erbschaften) können bei hinreichend sicherer Prognose in die Beurteilung eingestellt werden.
Rz. 189
Relevant für die Härtefallentscheidung sind zudem die Einkommensverhältnisse der Ehegatten. Dabei ist von einem weiten Einkommensbegriff auszugehen. Ob auf sie ein Anspruch besteht, ist nicht unbedingt von Bedeutung. Erforderlich ist vielmehr nur, dass sie vermutlich auch weiterhin zuverlässig erzielt werden können. Ob die Einkommensquellen ihrerseits im Versorgungsausgleich zu berücksichtigen sind oder nicht oder ob die Einkünfte unterhaltsrechtliche Relevanz haben, ist ohne Bedeutung. Zu messen sind diese immer allein am Zweck des Versorgungsausgleichs, eine zuverlässige und ausreichende Altersversorgung für die am Versorgungsausgleich Beteiligten sicherzustellen. Soweit Versorgungen in die Betrachtung einbezogen werden, ist entsprechend der durch das VAStrRefG geänderten Betrachtung auf Nettobeträge abzustellen, d.h. Sozialversicherungs-, v.a. Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge sind zuvor abzuziehen (vgl. auch § 20 Abs. 1 Satz 2 VersAusglG). Die gegenteilige Rechtsprechung des BGH zum früheren Recht ist deswegen überholt.
Rz. 190
Auch persönliche und soziale Umstände müssen schließlich in die Härtefallbeurteilung einfließen. Dazu gehören v.a. gesundheitliche oder altersbedingte Einschränkungen der Ehegatten in Bezug auf die Erwerbsfähigkeit, besonders soweit sie relevant für die Sicherung des Unterhalts nach der Ehe und im Alter sind, bestehende Unterhaltspflichten, die berufliche Stellung der Ehegatten und Ähnliches. V.a. gehören in diesen Kontext auch Pflichtverletzungen und Verhaltensweisen, welche dem Ausgleichspflichtigen ggü. als illoyale Verhaltensweisen angesehen werden können. Dabei ist aber äußerste Zurückhaltung geboten. Nicht jeder Treueverstoß oder persönlich kränkende Verhaltensweisen des anderen Ehegatten dürfen zum Anlass genommen werden, den Versorgungsausgleich ganz oder teilweise auszuschließen. Insofern ist ein erhebliches Gewicht der Verletzung zu verlangen – und zwar je mehr, desto weniger Vermögensbezug das dem Ehegatten vorgeworfene Verhalten hat. Der Ausgleich dient der Verteilung des gemeinsamen Vermögenserwerbs während der Ehe. Wenn dieser wegen rein persönlicher Verhaltensweisen eingeschränkt werden soll, dann müssen extrem strenge Maßstäbe angelegt werden, damit nicht der Ausschluss des Versorgungsausgleichs zu einer Art privater Sanktionierung von Fehlverhalten wird.