Prof. Dr. Martin Henssler, Christiane Pickenhahn
A. Spannungsfeld: Entgrenzung der Arbeitszeit
Rz. 1
Ein zunehmender Bedarf nach flexibleren Arbeitszeiten wird nicht nur von Arbeitgeberseite, sondern vermehrt auch auf Arbeitnehmerseite geäußert. Die konkreten Bedürfnisse gehen dabei naturgemäß weit auseinander. Während sich die Unternehmen einen flexibleren Personaleinsatz erhoffen, um der steigenden "On Demand"-Mentalität der Kunden gerecht zu werden, möchte die Arbeitnehmerseite eine stärker selbst bestimmte Verteilung der Arbeitszeit, um Familie und Beruf besser miteinander vereinbaren zu können, sei es für die Kindererziehung oder die Pflege von Angehörigen. Daneben wünscht sich der überwiegende Teil der Arbeitnehmerschaft (63 %) auch unabhängig von familiären Verpflichtungen eine bessere Work-Life-Balance (s. Befragung des BMAS, Mobiles und entgrenztes Arbeiten 2015, S. 17).
Nicht nur Großunternehmen, sondern auch viele Unternehmen des Mittelstandes bieten hierfür ein wachsendes Repertoire an Flexibilisierungsmodellen an: Gleitzeit, Vertrauensarbeitszeit, Arbeitszeitkonten (s. § 21 Rdn 276 ff.), Jobsharing (s. § 17 Rdn 125 ff.), Teilzeitarbeit (§ 21 Rdn 1526 ff.), Sonderurlaub/Sabbaticals; die Liste der Arbeitszeitflexibilisierungsmodelle ist lang.
Auch die Möglichkeiten des "Home Office" (Telearbeit oder mobile Arbeit) wurden bereits vor der COVID-19-Pandemie bei passenden Tätigkeiten vermehrt angeboten. Die Pandemie hat diesen Trend erheblich beschleunigt und zu einer massiven Ausdehnung des "Home Office" geführt. Die Möglichkeiten der Mobilen Arbeit (dazu unter § 81 Rdn 2 ff.) tragen gleichzeitig zur zunehmenden Arbeitszeitflexibilisierung bei. Der Handlungsbedarf im Arbeitszeitrecht hat sich zuletzt auch durch den BAG-Beschl. v. 13.9.2022 zur Einführung eines Arbeitszeiterfassungssystems erhöht. Bereits 2019 hat der EuGH in der Rechtssache "CCOO" (EuGH v. 14.5.2019 – C-55/18, NZA 2019, 683) das Fehlen einer gesetzlichen Verpflichtung der Arbeitgeber zur Erfassung der Arbeitszeit ihrer Arbeitnehmer als Verstoß gegen das Unionsrecht beurteilt. Um die praktische Wirksamkeit der europäischen Arbeitszeitvorgaben (RL 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 GRC) in vollem Umfang zu gewährleisten, verlangt der EuGH und sich dem nun anschließend das BAG ein "objektives, verlässliches und zugängliches System, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann" (hierzu noch Rn 6).
B. Rechtliche Vorgaben
I. Persönlicher Anwendungsbereich
Rz. 2
Die öffentlich-rechtlichen Arbeitsschutzvorschriften des ArbZG finden auf Arbeitnehmer sowie die zur Berufsausbildung Beschäftigten (Auszubildende, Volontäre und Praktikanten nach BBiG) Anwendung, § 2 Abs. 2 ArbZG. Der Arbeitnehmerbegriff des ArbZG ist dabei aufgrund der unionsrechtlichen Vorgaben der RL 2003/88/EG – unabhängig von der nationalen Rechtsnatur des Vertragsverhältnisses – autonom auszulegen (EuGH v. 14.10.2010 – C-428/09, Slg. 2010, I 9963 Rs. "Union Syndicale"; v. 21.2.2018 – C-518/15, NZA 2018, 293 Rs. "Matzak"), weshalb regelmäßig u.a. auch Fremdgeschäftsführer sowie Minderheitsgesellschafter-Geschäftsführer unter den Arbeitnehmerbegriff des ArbZG fallen (EuGH v. 11.11.2010 – C-232/09, NZA 2011, 143 Rs. "Danosa"; v. 9.7.2015 – C-229/14, NZA 2015, 861 Rs. "Balkaya"; ausführl. Pickenhahn, GmbH-Geschäftsführer als schutzbedürftige Arbeitnehmer?, 2017).
Rz. 3
§ 18 ArbZG nimmt bestimmte Personen, insbesondere leitende Angestellte im Sinne des § 5 Abs. 3 BetrVG, aus dem Anwendungsbereich aus. Höchstrichterlich noch nicht entschieden ist, ob Fremdgeschäftsführer und Minderheitsgesellschafter-Geschäftsführer als leitende Angestellte zu qualifizieren sind und deswegen entsprechend leitenden Angestellten nicht durch das ArbZG geschützt werden (dafür Lunk/Rodenbusch, GmbHR 2012, 188, 193; a.A. Henssler/Lunk, NZA 2016, 1425, 1429; Preis/Sagan, ZGR 2013, 26, 55). Nicht vom ArbZG erfasst sind Selbstständige, und zwar grundsätzlich auch dann nicht, wenn sie unter das Heimarbeitergesetz fallen (arbeitszeitliche Schutzvorschrift aber in § 11 HAG).
II. Höchstarbeitszeit, Ruhezeiten, Ruhepausen
Rz. 4
Rechtliche Vorgaben setzt das ArbZG durch Höchstarbeitszeiten, Ruhezeiten und Ruhepausen. So sieht § 3 ArbZG eine tägliche Höchstarbeitszeit von acht Stunden vor, die wiederum ohne sachlichen Grund auf zehn Stunden ausgeweitet werden kann, soweit in einem Zeitraum von sechs Monaten bzw. 24 Wochen durchschnittlich nicht mehr als acht Stunden gearbeitet wird. Neben der Höchstarbeitszeit sieht § 5 Abs. 1 ArbZG eine tägliche Mindestruhezeit von 11 Stunden vor. Außerdem sind nach § 4 ArbZG (im Voraus feststehende) Ruhepausen einzuhalten, die bei einer Arbeit von mehr als sechs Stunden mindestens 30 Minuten, bei einer Arbeitszeit von mehr als neun Stunden 45 Minuten zu betragen hat. Die Vorschriften der Höchstarbeitszeit und Mindestruhezeiten werden ergänzt durch eine feste wöchentliche Mindestruhezeit (Verbot der Sonn- und Feiertagsarbeit).
Rz. 5
Das Arbeitszeitrecht wird zudem durch das höherrangige Unionsrecht, insbesondere das der RL 2003/88/EG, Art. 31 Abs. 2 GRC und die Rechtsprechung des EuGH beeinflusst. Zwar kennt auch die Arbeitszeitrichtlin...