Rz. 244

Wenn der Geschädigte vorerkrankt oder durch eine frühere Verletzung vorgeschädigt ist, haftet der Schädiger für alle Schäden, auch wenn diese durch das neue Schadensereignis gerade erst ausgelöst worden sind.

 

Rz. 245

Auch durch den Unfall ausgelöste Krankheitserscheinungen, die auf vorhandenen Anlagen beruhen, bleiben daher im Rechtssinne Folgen des Unfalls. Der Schädiger muss eine schon im Unfallzeitpunkt vorhandene Minderung der Erwerbsfähigkeit des Geschädigten hinnehmen.

 

Rz. 246

Wer demnach einen gesundheitlich geschwächten oder anfälligen Menschen verletzt, kann nicht verlangen, so gestellt zu werden, als habe er einen gesunden Menschen geschädigt (BGH VersR 1960, 1092 u. NJW 1986, 2762; zfs 1996, 290).

 

Rz. 247

Oder anders ausgedrückt: Der Schädiger kann sich den Verletzten bezüglich seiner Konstitution nicht aussuchen. Der Schädiger trägt das Risiko dafür, dass sich aus einem verhältnismäßig geringen Unfall ein bedeutender Schaden entwickelt (OLG Köln MDR 68, 1008).

 

Rz. 248

Der Schädiger hat auch dafür einzustehen, dass relativ geringfügige Unfallverletzungen zu länger anhaltenden Schmerzen und Beeinträchtigungen in der Haushaltsführung bei einer erheblich degenerativ vorgeschädigten Hausfrau führen (OLG München DAR 1999, 407).

 

Rz. 249

Jedoch kann eine beim Geschädigten bereits vorhandene Schadensbereitschaft und eine daraus resultierende Auswirkung dieser Schadensanfälligkeit bei der Bemessung des Schmerzensgeldes berücksichtigt werden (BGH zfs 1997, 51).

 

Rz. 250

Grundsätzlich können sich konstitutionelle Schwächen des Verletzten also ebenso schmerzensgeldvermindernd auswirken wie die Alterssituation.

 

Rz. 251

Eine weit verbreitete Praxis der Versicherer ist es, bei (ggf. erneuter) Schädigung einer vorgeschädigten HWS (vgl. Rdn 275 ff., 317 ff.) die nunmehr festgestellten Beschwerden nur noch für eine begrenzte Zeit dem neuen Schadensereignis zuzurechnen und dementsprechend für die Folgezeit eine alleinige Verursachung durch die Vorschädigung anzunehmen.

 

Rz. 252

Sie berufen sich dabei auf die Rechtsprechung: Erleidet ein Verkehrsteilnehmer mit degenerativ vorgeschädigter Halswirbelsäule einen Unfall, sind die daraufhin eintretenden Beschwerden nicht unfallbedingt, wenn sie ohne den Unfall alsbald durch ein beliebiges Alltagsereignis ebenfalls ausgelöst worden wären (OLG Hamm zfs 2002, 177). Dabei wird aber schon übersehen, dass die Rechtsprechung nur diejenigen Ausnahmefälle vor Augen hat, bei denen gleichsam der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, gefehlt hat, um – wie jedes andere zufällige Alltagserlebnis ebenfalls – das Ereignis auszulösen (OLG Hamm zfs 2002, 177).

 

Rz. 253

Seitens der Versicherer wird der Haftungsausschluss regelmäßig damit begründet, dass die bei einem Unfall geschädigte HWS in den meisten Fällen ohnehin schon degenerativ, also infolge altersbedingten Verschleißes vorgeschädigt ist. Die Verschleißerscheinungen waren lediglich latent vorhanden und der Geschädigte fühlte sich nur subjektiv beschwerdefrei.

 

Rz. 254

Eine zeitliche Begrenzung der Unfallbedingtheit beruht jedoch auf einer schadensrechtlich unzutreffenden Kausalitätsbetrachtung (Dannert, Erneute Schädigung einer bereits vorgeschädigten Halswirbelsäule, NZV 2000, 9 ff.).

 

Rz. 255

Es bleibt nämlich der einmal festgestellte Kausalzusammenhang zwischen einem Unfall und bestimmten Beschwerden grundsätzlich bestehen. Er entfällt nicht wegen bloßen Zeitablaufs. War der Zustand vor dem Unfall mit keinerlei Schmerzen verbunden und sind nachher Schmerzen zu beklagen, dann ist der Unfall eine Bedingung, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfällt. Das gilt auch für eine etwaige Verschlimmerung zuvor schon bestehender Schmerzen (Dannert, Erneute Schädigung einer bereits vorgeschädigten Halswirbelsäule, NZV 2000, 9 ff.). Der Ersatzpflichtige muss daher beweisen, dass im Ausnahmefall einmal ein Austausch der Ursachen stattgefunden hat. Das gilt auch in den Fällen der "überholenden Kausalität".

 

Rz. 256

 

Tipp

Es gilt daher in besonderem Maße zu klären, ob diese degenerativen Vorerkrankungen tatsächlich irgendeine Auswirkung auf die Verletzungsfolgen hatten oder ob die Schmerzsituation im Hinblick auf Intensität und Behandlungsdauer davon weitestgehend unabhängig war. Diese Frage kann in solchen Fällen ausschließlich der diesbezüglich gesondert zu befragende behandelnde Arzt beantworten.

 

Rz. 257

Ist z.B. eine HWS-Distorsion nur auf eine massive Vorschädigung bzw. eine erhebliche Schadensanlage zurückzuführen, so entfällt dadurch nicht der Zurechnungszusammenhang. Allerdings führt die vorhandene Schadensbereitschaft zu einer Reduzierung des Schmerzensgeldes (OLG Hamm DAR 1998, 392; AG Norderstedt DAR 1998, 396; AG Waldkirch DAR 1999, 129; Ziegert, DAR 1998, 336).

 

Rz. 258

Problematisch sind die Fälle, bei denen zwei Unfälle nacheinander stattgefunden haben, deren jeweilige Verursachungsanteile nicht voneinander abgrenzbar sind, und jetzt Streit über die jeweilige Kausalität der beklagten Verletzungsfol...

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