Rz. 197
Abnorme Fehlverarbeitungen von Unfallereignissen sind nicht sogleich auch als Neurosen (neuerdings auch gern als "posttraumatische Belastungsstörung" bezeichnet) mit Krankheitswert anzusehen. Sie führen daher nicht immer zu einer Erhöhung des Schmerzensgeldes.
Rz. 198
Im Bereich des Personenschadens hat die Rechtsprechung inzwischen aber den Grundsatz entwickelt, dass die so genannte Konversionsneurose (im Gegensatz zur so genannten Tendenz-, Renten- bzw. Begehrensneurose) und die hieraus folgenden gesundheitlichen Schädigungen adäquat kausal durch das Unfallgeschehen verursacht sein können, sodass die sich hieraus ergebenden körperlichen Beeinträchtigungen erstattungsfähig sind (BGH VersR 1986, 241; zfs 1993, 190; 1996, 290; DAR 1998, 66 u. 1998, 67; OLG Brandenburg r+s 2016, 317; zur Kausalität und Zurechenbarkeit psychischer Folgeschäden siehe auch v. Gerlach, Die Rechtsprechung des BGH zum Haftpflichtrecht, DAR 1998, 213, 214).
aa) Primärverletzung
Rz. 199
Grundsätzlich ist stets Voraussetzung, dass eine mehr als nur geringfügige Primärverletzung feststeht und die geltend gemachte Beeinträchtigung einen eigenen Krankheitswert besitzt, es sei denn, die Verletzung trifft gerade speziell die Schadensanlage des Verletzten (OLG Hamm DAR 2001, 360). Maßstab für die Beurteilung der Geringfügigkeit sind die Grundsätze, welche hinsichtlich der Versagung eines Schmerzensgeldes bei Bagatellverletzungen Anwendung finden (BGH DAR 1996, 351; 1998, 63; 2000, 117). Bei der Frage, ob eine Körperverletzung stattgefunden hat, kommt die technische und medizinische Diskussion über eine Harmlosigkeitsgrenze zum Tragen. Auch nach Ausheilung der erlittenen primären Verletzungen bleibt es bei der Haftung für die Folgen einer dadurch verursachten und weiterhin bestehenden sekundären psychischen Erkrankung (OLG Frankfurt r+s 2016, 314).
Rz. 200
Auch der Unfall selbst darf nicht als Bagatelle einzustufen sein mit der Folge, dass die behauptete psychische Reaktion in einem groben Missverhältnis zum schädigenden Ereignis steht, sodass diese Reaktion nicht mehr verständlich ist (BGH NZV 1996, 353; 1998, 65 ff.; OLG Hamm DAR 2001, 360).
bb) Unmittelbarkeit
Rz. 201
Wird eine psychische Gesundheitsbeeinträchtigung auf das Miterleben eines schweren Unfalls zurückgeführt, so kommt eine Haftung des Schädigers regelmäßig nicht in Betracht, wenn der Geschädigte nicht selbst unmittelbar an dem Unfall beteiligt war (BGH zfs 2007, 626 ff.).
Rz. 202
Durch ein Unfallgeschehen ausgelöste, traumatisch bedingte psychische Störungen von Krankheitswert können eine Verletzung des geschützten Rechtsguts Gesundheit i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB darstellen (BGHZ 132, 341, 344 m.w.N.; BGH VersR 2001, 874, 875). Etwas anderes ist es aber, wenn z.B. ein Polizeibeamter in Ausübung seines Dienstes mit ansehen muss, wie Personen in einem Fahrzeug verbrennen und er das Erlebnis psychisch nicht verkraften kann.
Rz. 203
Der BGH hat eine Haftpflicht des Unfallverursachers ausschließlich in Fällen anerkannt, in denen der Geschädigte als direkt am Unfall Beteiligter infolge einer psychischen Schädigung eine schwere Gesundheitsstörung erlitten hat (BGH VersR 1986, 240, 241; BGH VersR 1991, 704, 705; BGH VersR 1993, 589, 590). Maßgeblich für die Zurechnung war in diesen Fällen stets, dass der Schädiger dem Geschädigten die Rolle eines unmittelbaren Unfallbeteiligten aufgezwungen hat und dieser das Unfallgeschehen psychisch nicht verkraften konnte (BGH VersR 1986, 240, 242). Solche Umstände sind aber nicht gegeben, wenn ein Polizeibeamter an dem eigentlichen Unfallgeschehen, das zu seiner psychischen Schädigung geführt haben soll, nämlich der Kollision, nicht beteiligt war.
Rz. 204
Der BGH (VersR 1986, 240) hatte früher einmal offen gelassen, ob auch völlig fremde, mit den eigentlichen Unfallbeteiligten nicht in einer näheren Beziehung stehende Personen bei besonders schweren Unfällen Schadensersatz für eine psychische Gesundheitsbeeinträchtigung erhalten können. Diese Frage ist aus den vorstehend dargelegten und nunmehr vom BGH festgeschriebenen Gründen zu verneinen.
Rz. 205
Dabei spielt es keine entscheidende Rolle, ob es sich bei den Geschädigten um Polizeibeamte oder andere Personen handelt, die zufällig das Unfallgeschehen miterleben. In beiden Fällen ist eine Schädigung, die aus der bloßen Anwesenheit bei einem schrecklichen Ereignis herrührt, dem allgemeinen Lebensrisiko zuzurechnen.