Rz. 206
Unter einer Konversionsneurose versteht man eine unangemessene Fehlverarbeitung des Unfallgeschehens, bei der das Unfallgeschehen unbewusst zum Anlass genommen wird, ungelöste innere Konflikte zu kompensieren. Die Energien aus der Konfliktbewältigung werden verschoben (Konversion). Aus dieser Verschiebung entstehende gesundheitliche Schäden sind ersatzfähig (BGH zfs 1998, 92; v. Gerlach, Die Rechtsprechung des BGH zum Haftpflichtrecht 1993, DAR 1994, 228).
Rz. 207
Von einer "Konversionsneurose" spricht man vor allen Dingen, wenn die psychische Fehlverarbeitung des Unfallgeschehens nicht mit dem Streben nach finanzieller Absicherung, sondern mit der Kompensation latenter innerer Konflikte zu erklären ist.
aa) Einzelfälle der Konversionsneurose
Rz. 208
Hierunter fallen folgende Einzelfallgruppen:
(1) Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
Rz. 209
Eine der häufigsten psychischen Folgestörungen nach Verkehrsunfällen ist die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Der Begriff umschreibt einen spezifischen Syndromkomplex mit folgenden typischen Symptomen (vgl. im Folgenden ausführlich Clemens/Hack/Schottmann/Schwab, Psychische Störungen nach Verkehrsunfällen, DAR 2008, 9 ff.):
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Eindringlich wiederkehrende, stark belastende Erinnerungen an das Erlebte. Am häufigsten sind bildhafte Erinnerungen, die unwillkürlich und blitzhaft auftreten oder in denen wie in einem Film das Geschehen wiedererlebt wird. Aber auch Geräusche, Gerüche oder taktile Reize aus der Unfallsituation werden oft sehr lebhaft erinnert, beispielsweise das Aufprallgeräusch, Schreie von Verletzten oder Brandgeruch. |
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Physiologische Übererregtheit, also eine starke Angespanntheit, die sich unter anderem in starken Schlafstörungen, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, übermäßiger Schreckhaftigkeit, schneller Gereiztheit und Muskelverspannungen äußern kann. |
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Vermeidung von Dingen, Aktivitäten oder Gedanken, die an das Trauma erinnern können, um die damit verbundenen negativen Gefühle nicht wiedererleben zu müssen. Bei Autounfallopfern kann sich die Vermeidung darauf beziehen, dass sie die Unfallstelle meiden oder gar nicht mehr Auto fahren bzw. nur, wenn unbedingt notwendig. |
Rz. 210
Weitere typische posttraumatische Belastungssymptome von Verkehrsunfallopfern sind eine gestörte Wahrnehmung im Straßenverkehr (z.B. falsche Einschätzung von Entfernungen, Gefühl von Beinaheunfällen), die Einschätzung des Straßenverkehrs als bedrohlich (ängstlich-angespanntes Fahren) oder (zumeist irrationale) Schuldgefühle, zum Unfallzeitpunkt nicht aufgepasst zu haben.
Rz. 211
Allein bei der normalen Abwicklung eines Verkehrsunfalls werden Unfallopfer regelmäßig an das Geschehen erinnert, sei es durch die Zeugenaussage bei der Polizei, die Schadenmeldung beim Versicherer, beim Arztbesuch, der Meldung bei der Krankenkasse und natürlich auch durch die Fragen des Rechtsanwaltes.
Rz. 212
Das strafrechtliche Ermittlungsverfahren und auch ein zivilrechtlicher Rechtsstreit oder auch nur die Auseinandersetzungen mit den Versicherern stellen für viele Geschädigte eine massive Zusatzbelastung dar: Neben den finanziellen Unsicherheiten, die damit verbunden sind, spielt hierbei das Gefühl der Nichtanerkennung des Leidens ("Ich bin Opfer eines schlimmen Unfalls und jetzt wollen die mir noch nicht einmal das zahlen, was mir zusteht!") eine große Rolle. Bei den Betroffenen wird das oft als mangelndes Verständnis und fehlende Unterstützungsbereitschaft empfunden. Das ist dann aber ebenfalls schmerzensgelderhöhend zu berücksichtigen.
Rz. 213
Im Zuge langwieriger juristischer Auseinandersetzungen ist der Betroffene auch gezwungen, sich immer wieder mit dem Trauma neu zu konfrontieren (Briefverkehr, Unfallrekonstruktion, Kontakt mit dem Unfallgegner während einer Verhandlung, Beweise für erlittene Schäden zusammentragen), was letztlich eine ständige Reaktivierung des traumatischen Erlebnisses bedeutet und damit wiederum das "Heilen" der seelischen Wunde verhindert. An dieser Stelle muss man sich als Rechtsanwalt darüber im Klaren sein, dass selbst eine erneute Unterredung in den Kanzleiräumen, sei sie für den Verfahrensfortgang auch noch so wichtig, auch psychische Nachteile für den Mandanten haben kann, die daher nach Möglichkeit vermieden werden sollte.
(2) Angststörungen
Rz. 214
Neben posttraumatischen Belastungsstörungen sind Angststörungen als große Gruppe psychischer Störungen nach Unfällen zu nennen (vgl. Clemens/Hack/Schottmann/Schwab, a.a.O. S. 11 ff.). Am häufigsten treten spezifische Reiseängste auf, und zwar bei rund 30 % der Unfallopfer. Es handelt sich hierbei um eine Gruppe phobischer Ängste, die sich beispielsweise in der unangemessenen Angst, einen erneuten Unfall zu erleiden, oder überhaupt am Verkehr teilzunehmen, manifestieren können. Bestimmte unfallassoziierte Situationen lösen dann körperliche und psychische Angstreaktionen aus.
Rz. 215
Wenn der Unfall z.B. an einer Kreuzung passiert ist, kann der Betroffene später mit heftigem Zittern, Schweißausbrüchen, Verkrampfungen und panikartigen Ängsten reagieren, wenn er sich einer Kreuzung nähert. Diese Ängste führ...