Rz. 227
Wird durch ein Schadensereignis bei dem Verletzten jedoch eine solche "Konversionsneurose" ausgelöst, so umfasst die Ersatzpflicht des Schädigers regelmäßig auch die auf den psychischen Beeinträchtigungen beruhenden Schadensfolgen (BGH zfs 1993, 190 = DAR 1993, 226; DAR 1996, 353 = VersR 96, 990).
Rz. 228
Das gilt auch dann, wenn die Neurose auf einer abnormen Erlebnisverarbeitung aufgrund spezieller Schadensanlage des Geschädigten beruht (OLG Hamm NZV 1998, 413; 2002, 36; 2002, 37; 2002, 171; OLG Brandenburg r+s 2016, 317). Allerdings ist die besondere Schadensanfälligkeit des Verletzten anspruchsmindernd zu berücksichtigen.
Rz. 229
Auch der BGH hat mehrfach seine Rechtsprechung bekräftigt, nach der ein Schädiger grundsätzlich auch für eine psychische Fehlverarbeitung als haftungsausfüllende Folgewirkung des Unfallgeschehens einzustehen habe, jedenfalls dann, wenn eine hinreichende Gewissheit besteht, dass diese Folge ohne den Unfall nicht eingetreten wäre (BGH zfs 1998, 93 = DAR 1998, 63 = NJW 1998, 810; DAR 1998, 66; 1998, 67).
Rz. 230
Das kann aber auf den ersten Blick zweifelhaft sein, wenn es ursprünglich nur um einen vergleichsweise leichten Unfall ging (in dem vom BGH entschiedenen Fall handelte es sich lediglich um ein HWS-Schleudertrauma und eine Schädelprellung am Türrahmen, Arbeitsunfähigkeit nur für fünf Tage attestiert). Auch der BGH macht die Einschränkung, dass eine solche Zurechnung nicht in Betracht kommt, wenn das Schadensereignis im Sinne einer Bagatelle (nur unter strengen Anforderungen – vgl. oben Rdn 169 ff.) ganz geringfügig ist und nicht gerade ganz speziell auf die Schadensanlage des Geschädigten trifft (BGH DAR 1996, 353).
Rz. 231
Der BGH bekräftigt in der Regel die Haftung für seelisch bedingte Folgeschäden. Er neigt dazu, die Kausalität grundsätzlich zu bejahen und Schadensersatz für psychische Folgeerkrankungen zuzuerkennen, wenn der Unfall den Auslöser für die psychischen Reaktionen des Geschädigten bildet (so BGH zfs 1998, 92 = DAR 1998, 66 = NJW 1998, 813).
Rz. 232
Von der Verursachung zu unterscheiden ist aber die rechtliche Zurechenbarkeit der Schadensfolge, bei der es sich um eine wertende Frage handelt. Auch hier stellt der BGH klar, dass die Zurechnung konstitutionsbedingter psychischer Folgen nur in Ausnahmefällen verneint werden könne, nämlich wenn das schädigende Ereignis ganz geringfügig sei (Bagatelle) und nicht gerade eine etwa vorhandene spezielle Schadenslage des Verletzten treffe (BGH zfs 1998, 92 = DAR 1998, 66 = NJW 1998, 813). Dabei kommt es nicht darauf an, ob die psychische Reaktion des Geschädigten gemeinhin unverständlich ist.
Rz. 233
Die Frage, ob die Voraussetzungen für eine Ausnahme von der Haftung für psychische Folgeschäden vorliegen, kann in der Regel nur unter Einschaltung eines Sachverständigen beantwortet werden (BGH zfs 1997, 249 = DAR 1998, 67 = NJW 1997, 1640). Die Frage nämlich, ob das schädigende Ereignis ganz geringfügig i.S.d. vorgenannten Kriterien des BGH war, nicht gerade eine spezielle Schadensanlage des Verletzten getroffen wurde, die psychische Reaktion des Geschädigten in einem groben Missverhältnis zum Anlass stand, also Ausdruck einer offensichtlich unangemessenen Erlebnisverarbeitung ist (KG DAR 2002, 211) und deshalb schlechterdings nicht mehr verständlich war, oder ob eine Begehrensneurose (nachstehend siehe Rdn 236 ff.) vorliegt, kann in der Regel nicht ohne besondere Sachkunde beantwortet werden (vgl. v. Gerlach in seiner Anm. zu den beiden Urteilen des BGH vom 11.11.1997, DAR 1998, 213 f.).
Rz. 234
Löst der Unfall bei dem Geschädigten jedoch eine solche psychische Gesundheitsstörung nur rein zufällig aus und hätte sie auch ohne den Unfall aus geringfügigeren anderen Anlässen jederzeit ebenfalls auftreten können, scheidet eine Haftung des Schädigers mangels Zurechnungszusammenhanges aus (OLG Hamm zfs 1996, 51 ff.; NZV 2002, 171; 2002, 172).
Rz. 235
Besteht bei zwei voneinander unabhängigen Schadensfällen (HWS-Verletzung) der Beitrag des Erstunfalls zum endgültigen Schadensbild nur darin, dass eine anlagebedingte Neigung des Geschädigten zur psychischen Fehlverarbeitung geringfügig verstärkt wird, reicht dies nicht aus, um eine Haftung des Erstschädigers für die Folgen des Zweitunfalls zu begründen (BGH zfs 2004, 349).