Leitsatz (amtlich)
›Die Frage, ob das schädigende Ereignis eine Ausnahme von der grundsätzlich gegebenen Haftung des Schädigers auch für psychische Folgeschäden erlaubt, weil es ganz geringfügig war, nicht gerade speziell eine Schadensanlage des Verletzten getroffen hat, deshalb die psychische Reaktion des Geschädigten in einem groben Mißverhältnis zum Anlaß steht und schlechterdings nicht mehr verständlich ist oder weil eine Begehrensneurose vorliegt, bedarf zu ihrer Beantwortung einer Würdigung der Persönlichkeit des Betroffenen, die der Tatrichter auch im Rahmen des § 287 ZPO in der Regel nicht ohne die Einschaltung eines Sachverständigen vor nehmen kann.‹
Verfahrensgang
LG Darmstadt |
OLG Frankfurt am Main |
Tatbestand
Die Parteien streiten um angebliche Folgen einer tätlichen Auseinandersetzung, die sich am 24. Juni 1990, einem Sonntag, ereignete. An diesem Tag trennte der Beklagte auf seinem landwirtschaftlich genutzten, an das Wohngrundstück des Klägers angrenzenden Grundstück bei laufendem Motor Ackergeräte von seinem Traktor. Der Kläger, der auf seiner Terrasse Kaffee trank, fühlte sich dadurch beeinträchtigt. Nach einem Wortwechsel drückte der Beklagte den Maschendrahtzaun zwischen den Grundstücken nieder, drang auf das Nachbargrundstück und versetzte dem Kläger eine kräftige Ohrfeige. Bei dem anschließenden Hin- und Herstoßen ging der Kläger zu Boden. Am Folgetag begab sich der Kläger zu seinen Hausärzten und am 29. Juni 1990 wegen Kopfschmerzen, starkem Ohrrauschen, Schlafstörungen, Schwindelgefühl und Ausfluß aus der Nase zu einer Fachärztin für HNO-Krankheiten. Diese schickte ihn zum Ausschluß einer frontobasalen Duraverletzung mit Verdacht auf eine Liquorfistel zur weiteren Abklärung in eine Universitätsklinik, wo u.a. ein leichtes hirnorganisches Psychosyndrom nach leichtem Schädel-Hirn-Trauma diagnostiziert wurde. Wegen einer zeitgleich festgestellten unfallunabhängigen "ausgeprägten Hirnatrophie" befand sich der Kläger vom 9. bis 25. Juli 1990 in stationärer Behandlung. Unmittelbar nach der Entlassung aus der Klinik erlitt der Kläger einen Hörsturz, den er ebenfalls auf den Streit mit dem Beklagten zurückführt. Hierwegen befand sich der Kläger vom 27. Juli bis 6. August 1990 in stationärer Behandlung, die Symptomatik bildete sich zurück. Eine orthopädische Konsiliaruntersuchung ergab eine entlang der Halswirbelsäule aufgetretene Muskelverspannung (paravertebraler Hartspann), zu deren Behebung Fango- und Massagebehandlung empfohlen wurde. Ab Ende 1990 nahm der Kläger auch psychotherapeutische Behandlung in Anspruch.
Der Kläger hat sämtliche Krankenhausaufenthalte, den Hörsturz, die Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule und die Notwendigkeit psychotherapeutischer Behandlung auf die tätliche Auseinandersetzung mit dem Beklagten zurückgeführt und den Ersatz ihm angeblich entstandener materieller Schäden in Höhe von 61.965,22 DM sowie die Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes im Betrag von mindestens 6.000 DM und die Feststellung der Verpflichtung des Beklagten begehrt, dem Kläger die aus dem Vorfall entstandenen materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen.
Das Landgericht hat dem Kläger 1.000 DM Schmerzensgeld sowie 658,42 DM als materiellen Schadensersatz zugesprochen und die Klage im übrigen abgewiesen. Die Berufung des Klägers, mit der er sein abgewiesenes Klagebegehren - den bezifferten materiellen Schadensersatzanspruch allerdings nur noch in Höhe von 58.739,32 DM - weiterverfolgt hat, ist vom Oberlandesgericht zurückgewiesen worden. Hiergegen richtet sich die Revision des Klägers.
Entscheidungsgründe
I. Das Berufungsgericht hat die Zurückweisung der Berufung im wesentlichen damit begründet, die vom Kläger als Folgen des Vorfalles vom 24. Juni 1990 behauptete Persönlichkeitsveränderung mit panikähnlichen Streßempfindungen und der erst über einen Monat nach dem Vorfall eingetretene Hörsturz seien nicht adäquat verursacht und stellten eine völlig unangemessene Erlebnisverarbeitung dar, die dem Beklagten nicht zugerechnet werden könne. Die geistige Verarbeitung der tätlichen Auseinandersetzung durch den Kläger stehe in einem groben Mißverhältnis zum nachgewiesenen Schadensereignis. Der durch Beweisaufnahme gesicherte Hergang des Vorfalles, der nach dem Eindruck der damals gerufenen Polizeibeamten als Lappalie einzustufen gewesen sei, zeige auch kein so dramatisches Bild, wie es der Kläger so wie seine Ehefrau und sein Sohn als Zeugen dargestellt hätten. Der Kläger habe eine Begehrensneurose entwickelt, wie sich auch aus der Hochrechnung seiner Schadensersatzvorstellungen ergebe. Solche Folgen einer Auseinandersetzung könnten dem Beklagten nicht zugerechnet werden. Der Einholung des vom Kläger angebotenen Sachverständigenbeweises für seine Behauptung, daß psychosomatische Störungen mit Persönlichkeitsveränderungen unfallabhängig aufgetreten seien und der Hörsturz ebenfalls auf die erlittene Mißhandlung zurückzuführen sei, bedürfe es daher nicht.
II. Diese Ausführungen halten revisionsrechtlicher Überprüfung und den Angriffen der Revision nicht stand.
Die Ansicht des Berufungsgerichts, die vom Kläger geltend gemachten Folgen der tätlichen Auseinandersetzung lägen außerhalb dessen, womit vernünftigerweise gerechnet werden könne und seien daher dem Beklagten nicht zuzurechnen, wird den Anforderungen an die Beurteilung der haftungsrechtlichen Zurechnung nicht gerecht.
1. Der Senat hat in seiner nach Erlaß des Berufungsurteils verkündeten Entscheidung vom 30. April 1996 (- VI ZR 55/95 - VersR 1996, 990, zum Abdruck in BGHZ 132, 341 vorgesehen) dargelegt, daß sich die Haftung für eine schuldhaft begangene Körperverletzung oder Gesundheitsbeschädigung auf alle daraus entstehenden Folgeschäden erstreckt, gleichviel ob es sich um organisch oder psychisch bedingte Folgewirkungen handelt. Die Schadensersatzpflicht für psychische Auswirkungen setzt nicht voraus, daß sie eine organische Ursache haben, es genügt vielmehr die hinreichende Gewißheit, daß die psychisch bedingten Ausfälle ohne den Unfall nicht aufgetreten wären (Senatsurteil aaO. unter II 2 a) m.w.N.). Der Schädiger hat auch für seelisch bedingte Folgeschäden, selbst wenn sie auf einer psychischen Prädisposition oder einer neurotischen Fehlverarbeitung beruhen, haftungsrechtlich grundsätzlich einzustehen. Eine Ausnahme gilt aber für Begehrens- und Rentenneurosen, in denen der Geschädigte den Vorfall in dem neurotischen Streben nach Versorgung und Sicherung lediglich zum Anlaß nimmt, den Schwierigkeiten und Belastungen des Erwerbslebens auszuweichen (Senat aaO. II 2 c) aa)). Auch kann eine Haftungsbegrenzung in Fällen extremer Schadensdisposition des Geschädigten eintreten, das ist jedoch nur dann der Fall, wenn das schädigende Ereignis ganz geringfügig ist (Bagatelle), nicht gerade speziell die Schadensanlage des Verletzten trifft und deshalb die psychische Reaktion im konkreten Fall wegen ihres groben Mißverhältnisses zum Anlaß schlechterdings nicht mehr verständlich ist.
2. Nach diesen Grundsätzen hätte das Berufungsgericht zur Beurteilung der Frage, ob die Voraussetzungen für eine Ausnahme von der Haftung des Beklagten vorlagen, den vom Kläger angetretenen Beweis erheben müssen. Der Kläger hat dafür, daß der Vorfall vom 24. Juni 1990 bei ihm zu erheblichen Beeinträchtigungen in Form einer nachhaltigen Alteration seiner Persönlichkeit, zu psychoreaktiven Ängsten und psychosomatischen Störungen sowie unter Mitwirkung von Streßfaktoren infolge dieses Geschehens zu einem Hörsturz geführt habe, Beweis durch Sachverständigengutachten bzw. sachverständiges Zeugnis angeboten. Das Berufungsgericht hat diesem Beweisantrag nicht entsprochen, sondern statt dessen in eigener Würdigung ein auffälliges Mißverhältnis zwischen der psychischen Reaktion des Klägers und ihrem Anlaß angenommen und eine Begehrensneurose des Klägers als Ausnahme von der grundsätzlichen Haftung des Beklagten bejaht, ohne die hierzu erforderliche eigene Sachkunde aufzuzeigen. Dieses Verfahren verletzt § 287 Abs. 1 ZPO wie die Revision zu Recht rügt. Die Frage, ob das schädigende Ereignis ganz geringfügig war, nicht gerade speziell eine Schadensanlage des Verletzten getroffen hat, die psychische Reaktion des Geschädigten in einem groben Mißverhältnis zum Anlaß stand und deshalb schlechterdings nicht mehr verständlich war oder ob eine Begehrensneurose vorlag, kann in der Regel nicht ohne besondere Sachkunde beantwortet wer den. Bei der hierzu erforderlichen Würdigung der Persönlichkeit des Betroffenen ist es daher von besonderer Bedeutung, daß sich der Tatrichter ärztlicher Gutachter bedient, die auf diesem Gebiet die erforderliche Spezialausbildung und Erfahrung haben (vgl. Senatsurteil vom 28. September 1965 - VI ZR 87/64 - VersR 1965, 1080, 1082 unter I 2 e)). Das Gericht muß deshalb - auch wenn es um Feststellungen zur schadensausfüllenden Kausalität geht, bei denen das Gericht nach § 287 ZPO freier gestellt ist - einen Sachverständigen einschalten oder aber darlegen, daß es über die erforderliche Sachkunde selbst verfügt. Das dem Tatrichter in § 287 ZPO eingeräumte Ermessen darf nicht "in der Luft schweben" (vgl. Senatsurteil vom 15. März 1988 - VI ZR 81/87 - VersR 1988, 837, 838 unter II 2 a) m.w.N.). Auch die Bewertung der Schadensberechnung des Klägers als "grotesk" vermag ohne psychiatrische Fachkenntnisse keinen Anhaltspunkt für eine Begehrensneurose des Klägers zu begründen. Hinzu kommt, daß das vom Kläger begehrte Schmerzensgeld von 6.000 DM keinesfalls als übertrieben erscheint, wenn der Hörsturz dem Beklagten zuzurechnen und nicht alsbald folgenlos abgeklungen sein sollte. Schließlich vermag auch eine (unzulässigerweise vorweggenommene) Würdigung des mutmaßlichen Ergebnisses fachkundiger Prüfung in Fällen, in denen eine unfallunabhängige hirnorganische Beeinträchtigung (Hirnatrophie) des Geschädigten die Aufklärung des Ursachenzusammenhangs erschwert, den ausdrücklich beantragten Versuch einer fachkundigen Klärung nicht entbehrlich zu machen.
Fundstellen
Haufe-Index 2993463 |
NJW 1997, 1640 |
BGHR ZPO § 287 Beweiserhebung 4 |
DRsp I(123)421c |
DAR 1998, 67 |
MDR 1997, 549 |
VersR 1997, 752 |
ZfS 1997, 249 |
r s 1997, 370 |