Rz. 317

In den ärztlichen Gutachten wird oft von einer bereits vor dem Unfall "degenerativ vorgeschädigten Halswirbelsäule" (vgl. auch Rdn 225 ff., Rdn 275 ff.) gesprochen. Gemeint sind damit ausschließlich altersbedingte Verschleißerscheinungen. In Betracht kommen aber auch noch nicht ausgeheilte Vorschädigungen. Diese Verschleißerscheinungen sind nicht immer mit körperlichen Beschwerden verbunden. Der Geschädigte berichtet glaubhaft, dass er sich vor dem Unfall vollkommen beschwerdefrei gefühlt habe und erst seit dem Unfall unter den HWS-Schmerzen leide. Deshalb neigen Ärzte dazu, die Schmerzerscheinungen nur vorübergehend als Unfallfolge zu beurteilen. Daher werden die Schmerzen dann nur für einen gewissen Zeitraum dem Unfallereignis zugeordnet, anschließend jedoch dem nicht mehr unfallkausalen Vorschädigungsbereich.

 

Rz. 318

Rechtlich ist die Frage der Vorschädigung meist kein Problem, weil nach allgemeinen Grundsätzen der Schädiger die konkrete Beschaffenheit des Geschädigten hinnehmen muss, also keinen Anspruch auf einen nicht Vorgeschädigten hat, weil er im Gegenteil überhaupt niemanden schädigen darf. Die Schwierigkeit liegt vielmehr im tatsächlichen Bereich, weil sich der Zustand gerade der HWS durch Zeitablauf und insbesondere bis zur Begutachtung durch einen Sachverständigen im Prozess sowohl zum Guten wie auch zum Schlechten hin verändern kann.

 

Rz. 319

In der juristischen Praxis wird diesen ärztlichen Kausalitätsbetrachtungen fast immer bedenkenlos und kritiklos gefolgt. Es werden dann regelmäßig die über einen bestimmten Zeitraum hinausgehenden Beschwerden nicht mehr dem Schadensereignis zugeordnet und Schmerzensgeld ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr zugesprochen (so z.B. OLG Frankfurt/M. NZV 1994, 26; ähnlich OLG Hamm r+s 1994, 379). Der BGH hat sich mit diesem Problem bislang – leider – nicht befasst.

 

Rz. 320

Hier ist Kritik angebracht und dieser Praxis kann keinesfalls beigepflichtet werden. Ursache eines bestimmten Erfolges ist jede Bedingung, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfällt. Ergibt demnach ein Vergleich des Zustandes vor dem Unfall mit dem danach, dass sich der Zustand erst eingestellt oder jedenfalls verschlimmert hat, dann ist diese Verschlechterung ein dem Unfallereignis zuzuschreibender Erfolg. Zwar mag der Vorschaden latent vorhanden und "klinisch stumm" gewesen sein. War der vorherige Zustand aber nicht mit Schmerzen verbunden und sind die Beschwerden erst nach dem Unfall aufgetreten, also durch diesen erst ausgelöst worden, dann sind sie komplett auf das Unfallereignis zurückzuführen und daher auch vollständig unfallkausal.

 

Rz. 321

Die von den Medizinern vorgenommene Kausalitätsbetrachtung ist somit juristisch falsch. Sie verstößt gegen die im Zivilrecht anzuwendende Adäquanztheorie und darf demzufolge auch nicht Eingang in die rechtliche Beurteilung finden (so auch Dannert, Schadensersatzforderungen nach unfallbedingter Verletzung der Halswirbelsäule (HWS), zfs 2002, 50 ff.). Danach dürfen nur ganz außergewöhnliche Bedingungen als nicht mehr kausal angesehen werden. Möglicherweise lassen sich Ärzte in ihren Gutachten von dem im Sozialrecht geltenden Kausalitätsprinzip leiten, der "Theorie der wesentlichen Bedingung".

 

Rz. 322

Rechtsprechung gibt es in diesem Sinne bislang noch nicht sehr zahlreich (andeutungsweise: OLG Hamm DAR 1994, 155). Das sollte aber nicht daran hindern, in diesem Sinne Entscheidungen herbeizuführen und entsprechend zu argumentieren.

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