Hilmar Stobbe, Dr. Jens Tietgens
Rz. 17
Liegen dem Geschädigten Arztberichte vor, ist die Höhe des Schmerzensgeldes zu bestimmen. Ein Schmerzensgeld als angemessener Ausgleichsbetrag muss unter Berücksichtigung der Ausgleichs- und Genugtuungsfunktion für jeden einzelnen Fall durch Würdigung und Abwägung aller ihn prägenden Umstände gewonnen werden. Das auf diese Weise gewonnene Ergebnis ist anschließend im Hinblick auf den Gleichheitsgrundsatz anhand von in sog. Schmerzensgeldtabellen erfassten Vergleichsfällen zu überprüfen.
Rz. 18
Die Tabellen enthalten mehrere tausend leitsatzartig zusammengestellte Gerichtsentscheidungen, die entweder nach der Höhe des Schmerzensgeldes oder der Art der erlittenen Personenschäden gestaffelt sind. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die Tabellen allenfalls richtungsweisende Funktion haben und lediglich Anregungen für die Bewertung geben können. Die individuelle Ermittlung des billigen Ausgleichsbetrags aufgrund tatsächlicher Feststellungen kann dadurch nicht ersetzt werden.
Die Höhe des zuzubilligenden Schmerzensgeldes hängt entscheidend vom Maß der durch das Haftungsereignis verursachten körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen. Maßgeblicher Zeitpunkt ist im Gerichtsverfahren der Schluss der mündlichen Verhandlung, zu dem die Beeinträchtigen entweder vorliegen müssen oder mit ihnen als Verletzungsfolge ernstlich gerechnet werden muss.
Rz. 19
Die Gerichtsentscheidungen dienen als Orientierungshilfen für die Bezifferung des konkreten Schmerzensgeldanspruchs des Geschädigten. Bei der Suche nach vergleichbaren Entscheidungen sind u.a. folgende Schmerzensgeldkriterien zu berücksichtigen:
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Art und Umfang der eingetretenen Verletzungen; |
▪ |
Art und Umfang der Behandlungsmaßnahmen; |
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Größe, Heftigkeit und Dauer erlittener Schmerzen; |
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Dauer einer etwaigen Arbeitsunfähigkeit (MdE = Minderung der Erwerbsfähigkeit); |
▪ |
verbleibender Dauerschaden als besonderer Abwägungsfaktor; |
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Schwere des Schuldvorwurfs gegenüber dem Schädiger; |
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Mitverschulden des Geschädigten; |
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ästhetische Beeinträchtigung (Narben etc.); |
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Beeinträchtigungen des allgemeinen Lebensgefühls und der Freizeitgestaltung; |
▪ |
das Alter des Geschädigten. |
Rz. 20
Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Schwere dieser Belastungen vor allem durch die Stärke, Heftigkeit und Dauer der erlittenen Schmerzen und Funktionsbeeinträchtigungen bestimmt wird.
Rz. 21
Praxistipp
Bei einem vorhersehbar langwierigen Heilungsprozess kann es sinnvoll sein, den Mandanten frühzeitig die Verbesserungen protokollieren zu lassen. Das erleichtert die Darstellung der Kriterien für die Höhe des Schmerzensgeldes.
Rz. 22
Die gefundenen Werte sind in folgenden Fällen angemessen zu erhöhen:
▪ |
Wenn als Vergleichsmaßstab ältere Entscheidungen herangezogen werden. Die in solchen Urteilen ausgewiesenen Schmerzensgelder sind aufgrund der zwischenzeitlich eingetretenen Geldentwertung nach Maßgabe der gestiegenen Lebenshaltungskosten anzupassen. |
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Wenn der Geschädigte schwere Verletzungen erlitten hat. Die allgemeine Entwicklung in der Schmerzensgeldrechtsprechung ist davon geprägt, für Bagatellverletzungen keine und für schwerwiegende Verletzungen erhöhte Schmerzensgelder auszuurteilen. Hat der Geschädigte einen erheblichen Personenschaden erlitten, grenzen die ermittelten Schmerzensgeldentscheidungen das angemessene Schmerzensgeld deshalb in aller Regel nach unten und nicht nach oben ab. |
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Wenn der Schädiger bzw. sein Kfz-Haftpflichtversicherer die Regulierung des Personenschadens schuldhaft verzögert oder grundlos herabwürdigende Behauptungen über den Geschädigten aufstellt bzw. ein völlig uneinsichtiges vorgerichtliches Verhalten des Schädigers/seines Haftpflichtversicherers vorliegt. Zögerliches oder kleinliches Regulierungsverhalten wirkt schmerzensgelderhöhend, wenn dies auf einem vorwerfbaren oder jedenfalls nicht nachvollziehbaren Verhalten beruht, welches sich in unangemessen niedrigen vorprozessualen Leistungen mit anschließenden verfahrensverzögernden Einwendungen gegen die Schmerzensgeldhöhe, unverständlich verzögerter Regulierung oder unvertretbarem vorprozessualen Verhalten, das über die verständliche Rechtsverteidigung hinausgeht, niederschlägt. Wirkt das Regulierungsverhalten auf den Geschädigten wie ein Zermürbungsversuch, so sind die Gerichte verpflichtet, einem Missbrauch wirtschaftlicher Macht dadurch entgegenzuwirken, dass sie dem Geschädigten ein höheres Schmerzensgeld zusprechen. Das bloße Bestreiten der Verletzungsfolgen durch den Versicherer stellt aber kein treuwidriges Regulierungsverhalten dar. |
Rz. 23
Beispiel
Der Mandant A ist Opfer eines fremdverschuldeten Verkehrsunfalls. Als Fahrradfahrer kollidierte er mit dem Pkw des Unfallgegners B. Dabei zog er sich schwere Kopfverletzungen zu. Die Diagnose lautete auf Schädelbruch, schwere Gehirnerschütterung, große Kopfplatzwunde, diverse Hämatome im Gesichtsfeld und Halswirbeltrauma. Die medizinische Behandlung erforderte einen dreiwöchigen Kranken...