Hilmar Stobbe, Dr. Jens Tietgens
Rz. 52
Der am absolut häufigsten und geradezu regelmäßig vorkommende Personenschaden ist das sog. Halswirbelsäulen(= HWS)-Syndrom, auch genannt "HWS-Distorsion", "Schleudertrauma" oder "Cervico-Cephales-Beschleunigungssyndrom". Durch den Unfall kommt es zu Relativbewegungen zwischen Kopf und Rumpf. Während die Bewegung des Oberkörpers durch den Sicherheitsgurt, den Sitz oder die Seitenverkleidung des Fahrzeugs beschränkt ist, kann sich der Kopf weitestgehend frei bewegen. Beschränkt ist seine Bewegung durch die Halswirbelsäule und Muskeln und Bänder in diesem Bereich. An ihnen kann es unfallbedingt zu Schäden kommen, die unter den Sammelbegriff HWS-Distorsion fallen.
Rz. 53
Die posttraumatische HWS-Distorsion stellt ein in der Unfallregulierung häufig auftretendes Problem dar. Die Streitpunkte liegen in juristischen, medizinischen und technischen Bereichen. Weil eine posttraumatische HWS-Distorsion nicht objektiv (z.B. wie eine Fraktur durch Röntgen) nachweisbar ist, kann der behandelnde – und attestierende – Arzt nur auf die Angaben seines Patienten vertrauen. Da es außerdem eine Vielzahl an Symptomen gibt, die nicht alle auftreten müssen, lässt sich eine Diagnose auch darüber nicht verifizieren. Weil eine Vielzahl an Symptomen auch andere Ursachen haben können und das Verletzungsbild zu Missbrauch genutzt werden könnte, fühlen sich die Versicherer oftmals betrogen und die Geschädigten oftmals als Betrüger abgestempelt.
Rz. 54
Technische und medizinische Sachverständige sind das Problem von verschiedenen Seiten angegangen und haben unterschiedliche Ergebnisse erzielt. Klar ist derzeit nur, dass es keine herrschende Meinung gibt. Das beginnt mit der Klassifizierung der Verletzung in Schweregrade. Gebräuchlich sind die Einordnungen nach Erdmann in 3 Grade aber auch noch Quebec in 5 Grade. Auch die Fragen, ob unterhalb einer bestimmten Geschwindigkeit (z.B. 10 km/h) keine HWS-Distorsion eintreten kann und ob eine "out-of-position-Haltung" den Eintritt der Verletzung begünstigen kann, sind wissenschaftlich umstritten. Letztlich besteht Streit über den Umfang einzuholender Beweismittel. Alle dies wirkt sich jedoch nur im Bereich kleinerer Unfälle aus. Bei einem Auffahrunfall, bei dem das Heck des angestoßenen Fahrzeugs stark eingedrückt wurde, wird der Eintritt einer HWS-Distorsion oftmals unstreitig bleiben. Die folgenden Ausführungen betreffen daher potentiell streitige Fälle.
Rz. 55
Die erste Schwierigkeit liegt im Nachweis der Verletzung. Da bildgebende Methoden überwiegend ausscheiden, muss die Diagnose auf Symptomen beruhen. Hilfreich ist, wenn der Mandant den zeitlichen Ablauf genau darstellen kann. Von Bedeutung kann sein, welches Symptom wann eintrat, sich wie entwickelte und wann wieder verschwand. Die Schmerzen und die Einschränkungen müssen nicht alle gleichzeitig entstehen oder verschwinden. Zu den typischen Symptomen gehören
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Schmerzens im Hals- und Nackenbereich, |
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Myogelosen (Verhärtung der Muskulatur, |
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Kopfschmerzen, |
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Schwindel, |
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Parästhesien, Hypästhesien (Kribbel- und Taubheitsgefühl). |
Anhand der Symptome kann ein Sachverständiger wenigstens die Plausibilität bestätigen. Im Zusammenhang mit entsprechenden ärztlichen Berichten kann das für die Beweisführung genügen. Es gilt der Maßstab des § 286 ZPO. Er erfordert keine absolute oder unumstößliche Gewissheit und auch keine "an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit", sondern einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der verbleibenden Zweifeln Schweigen gebietet. Abzustellen ist außerdem auf den gesamten Inhalt der Verhandlung und des Ergebnisses der Beweisaufnahme. Es stehen die üblichen Beweismittel zur Verfügung, die auch einzuholen sind. Gegen die Anhörung der Partei, der behandelnden Ärzte und Zeugen aus dem Familien- oder Freundeskreis werden jedoch Einwände erhoben, weil sich die objektiv schlecht nachweisbare Verletzung ihren Wahrnehmungen entzieht. Als Beweismittel abgelehnt wurden
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Atteste |
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Anhörung behandelnder Ärzte |
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Beweis des engen zeitlichen Zusammenhangs |
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Anhörung der Partei und Zeugen aus dem Umfeld der Partei. |
Rz. 56
Mit dem gleichen Beweismaßstab ist die Kausalität zu beweisen. Die für den Anspruch dargelegten Schmerzen und körperlichen Beeinträchtigungen müssen auf das Schadenereignis zurückzuführen sein. Auch hier kann nicht nur auf den zeitlichen Zusammenhang abgestellt werden. Im Gegenzug können der Schädiger und sein Haftpflichtversicherer nicht schlicht auf eine "Harmlosigkeitsgrenze" abstellen.
Rz. 57
Insgesamt gelingt die Beweisführung am ehesten über ein Gutachten. Allerdings kann nicht schlicht ein medizinisches oder nur ein technisches Gutachten eingeholt werden. Erforderlich ist stets ein interdisziplinäres Gutachten, ggf. auch ein biomechanisches Rekonstruktionsgutachten. Ausgehend von der allgemeine Feststellung, dass eine Verletzung nur eintreten kann, wenn die auftretende Kraft so groß ist, dass sie die Grenze der Elastizität und/oder Stabilität übersc...