Detlef Burhoff, Thomas Hillenbrand
Das Wichtigste in Kürze:
1. |
Die Vortätigkeit des Richters ist, wenn sie das Gesetz nicht ausdrücklich zu einem Ausschließungsgrund nach den §§ 22, 23 erhoben hat, grds. kein Ablehnungsgrund, sofern zu ihr nicht besondere Umstände hinzukommen, die die Besorgnis der Befangenheit begründen. |
2. |
Die Rspr. des EGMR sieht hingegen in den Fällen typischer Vorbefassung oder Vorbefassung in anderer Funktion regelmäßig einen Ablehnungsgrund. |
3. |
Auch zu dem Ablehnungsgrund "Vorbefassung" liegt umfangreiche Rechtsprechung vor. |
Rdn 119
Literaturhinweise:
S. die Hinw. bei → Ablehnung eines Richters, Allgemeines, Teil A Rdn 9, und bei → Ablehnungsgründe, Befangenheit, Allgemeines, Teil A Rdn 83.
Rdn 120
1. Die Vortätigkeit des Richters ist, wenn sie das Gesetz nicht ausdrücklich zu einem Ausschließungsgrund nach den §§ 22, 23 erhoben hat (→ Ausschluss eines Richters, Teil A Rdn 559), nach innerstaatlicher allgemeiner Meinung grds. kein Ablehnungsgrund, sofern zu ihr nicht besondere Umstände hinzukommen, die die Besorgnis der Befangenheit begründen (u.a. BGHSt 24, 336; BGH NJW 2009, 1287 [Ls.]; NStZ 2012, 519 [Gesamtschau]; 2014, 660 m. Anm. Hillenbrand StRR 2014, 444; NStZ 2016, 357; Beschl. v. 7.6.2022 – 5 StR 460/21, NStZ 2023, 53; StraFo 2016, 289; Beschl. v. 19.4.2018 – 3 StR 23/18, StraFo 2018, 429 m. Anm. Burhoff StRR 9/2018, 10 [Revisionsverfahren]; NStZ-RR 2018, 252 [Revisionsverfahren]; BGH. Beschl. v. 14.11.2023 – 4 StR 239/23, NStZ-RR 2024, 24; Beschl. v. 9.1.2018 – 1 StR 571/17; Beschl. v. 31.1.2023 – 4 StR 67/22, StraFo 2023, 314; OLG Köln, Beschl. v. 8.4.2013 – 2 Ws 204/13; OLG Oldenburg, Beschl. v. 30.10.2020 – 1 Ws 362/20, StraFo 2021, 21; s. aber EGMR, Urt. v. 16.2.2021 – 1128/17, StV-S 2021, 41 [Ls; Aufhebung von BGH StraFo 2016, 289) und auch Stange/Rilinger StV 2005, 579, die bei atypischen Vorentscheidungen von Befangenheit ausgehen). Ein Richter ist danach nicht schon allein deshalb befangen, weil er mit dem Sachverhalt bereits befasst war. Denn ein verständiger Angeklagter kann und muss davon ausgehen, dass der Richter sich dadurch nicht für künftige Entscheidungen festgelegt hat. Erforderlich ist eine Gesamtschau (BGH NStZ 2012, 519; BGH, Beschl. v. 28.2.2018 – 2 StR 234/16, NStZ 2018, 483 m. Anm. Ventzke; zur "Vorbefassung" als Ausschlussgrund nach § 22 → Ausschluss eines Richters, Teil A Rdn 559 ff. und OLG Oldenburg, Beschl. v. 14.5.2020 – 1 Ws 140/20, StraFo 2021, 332 m. Anm. Deutscher StRR 11/2020, 19; zu allem eingehend Boe HRRS 2022, 151; Mosbacher NStZ 2022, 641 ff.; Tüz StraFo 2023, 308, 309 ff. und aus neuerer Zeit Jacobsen, Krehl, H. Schneider, Wehnert, jeweils a.a.O.). Diese Rspr. ist vom BVerfG nicht beanstandet worden (zuletzt BVerfG, Beschl. v. 27.1.2023 – 2 BvR 1122/22, NStZ 2023, 627 [Cum-Ex]; zur Pflicht des Präsidiums betreffend GVP/Vorbefassung BGH, Beschl. v. 25.7.2023 – StB 42/23, NStZ-RR 2023, 327).
Rdn 121
2. Die Rspr. des EGMR sieht/sah hingegen in den Fällen typischer Vorbefassung oder Vorbefassung in anderer Funktion regelmäßig einen Ablehnungsgrund (dazu u.a. EGMR, Urt. v. 16.2.2021 – 1128/17, NJW 2021, 2947 [Aufhebung von BGH StraFo 2016, 289] m. Anm. Euler StV 2022, 273 und Boe HRRS 2022, 151; eingehend Meyer-Mews, Richterliche Befangenheit, S. 42 ff.; Tüz StraFo 2023, 308, 309 ff.; Sauer NJW 2024, 931). Das gilt/galt insbesondere auch für die Beteiligung an (Haft-)Zwischenentscheidungen (dazu EGMR EuGRZ 1993, 122; s. i.Ü. EGMR EuGRZ 1985, 301; zur Begründung der EGMR-Beschwerde EGMR NJW 2007, 3553). Allein die Tatsache, dass ein Richter bereits über ähnliche Strafvorwürfe in einem gesonderten Verfahren entschieden hat, wie z.B. in einem Verfahren gegen Drogenhändler, reicht aber nicht aus, Zweifel an seiner Unparteilichkeit in einem darauf folgenden Verfahren gegen einen seiner Kunden zu begründen (EGMR NJW 2011, 3633; ähnlich EGMR, Beschl. v. 25.11.2021 – 63703/19 und dazu BGH, Beschl. v. 18.5.2022 – 3 StR 181/21, NStZ 2023, 168; s.a. noch OLG Oldenburg, Beschl. v. 10.6.2022 – 1 Ws 203 + 204/22, NJW 2022, 2631 m. Anm. Weigend StV 2023, 511).
☆ Den Ablehnungsgrund der Vorbefassung muss der Verteidiger sorgfältig schon bei der → Vorbereitung der Hauptverhandlung , Teil V Rdn 4046 , und nicht erst in der HV prüfen. Dabei sollte er auf die von der innerstaatlichen Rspr. abweichende Auffassung des EGMR hinweisen und auch die Frage der innerstaatlichen Bindungswirkung der Rspr. des EGMR thematisieren (dazu zuletzt BVerfG NJW 2004, 3407 und NJW 1986, 1425 [unmittelbar geltendes Völkerrecht, auf das sich jedermann berufen kann]; dazu auch Meyer-Mews , Richterliche Befangenheit, S. 45 f. m.w.N.)."Vorbefassung" muss der Verteidiger sorgfältig schon bei der → Vorbereitung der Hauptverhandlung, Teil V Rdn 4046, und nicht erst in der HV prüfen. Dabei sollte er auf die von der innerstaatlichen Rspr. abweichende Auffassung des EGMR hinweisen und auch die Frage der innerstaatlichen Bindungswirkung der Rspr. des EGMR thematisieren (dazu zuletzt BVerfG NJW 2004, 3407 und NJW 1986, 142...