Leitsatz
Der in Artikel 10 EG verankerte Grundsatz der Zusammenarbeit verpflichtet eine Verwaltungsbehörde auf entsprechenden Antrag hin, eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung zu überprüfen, um der mittlerweile vom Gerichtshof vorgenommenen Auslegung der einschlägigen Bestimmung Rechnung zu tragen, wenn
– die Behörde nach nationalem Recht befugt ist, diese Entscheidung zurückzunehmen,
– die Entscheidung infolge eines Urteils eines in letzter Instanz entscheidenden nationalen Gerichts bestandskräftig geworden ist,
– das Urteil, wie eine nach seinem Erlass ergangene Entscheidung des Gerichtshofs zeigt, auf einer unrichtigen Auslegung des Gemeinschaftsrechts beruht, die erfolgt ist, ohne dass der Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht wurde, obwohl der Tatbestand des Artikels 234 Absatz 3 EG erfüllt war, und
– der Betroffene sich, unmittelbar nachdem er Kenntnis von der besagten Entscheidung des Gerichtshofs erlangt hat, an die Verwaltungsbehörde gewandt hat.
Normenkette
Art. 10 EG , § 48 Abs. 1 VwVfG , § 130 Abs. 1 AO , § 172 Abs. 1 Satz 1 AO
Sachverhalt
Ein Exporteur hatte angeblich zu viel gezahlte Ausfuhrerstattungen der (niederländischen) Verwaltungsbehörde erstatten müssen, nachdem die Ausfuhrware aufgrund einer Marktordnungsprüfung anders als vom Exporteur in der Ausfuhranmeldung angegeben tarifiert wurden. Sein Widerspruch gegen den Erstattungsbescheid war erfolglos geblieben. Seine deshalb erhobene Klage wurde abgewiesen. Das Gericht war dabei der Ansicht, die Auslegung des Zolltarifs lasse keinen Raum für berechtigte Zweifel, die eine Vorlage an den EuGH erforderten.
Nachdem dieses Urteil rechtskräftig geworden war, hat der EuGH in einem anderweit angestrengten Vorabentscheidungsverfahren die betreffende Tarifierungsfrage anders beantwortet als das niederländische Gericht. Der Exporteur beantragte deshalb, ihm die erstatteten Beträge zurückzuzahlen und ihm aufgrund des Urteils des niederländischen Gerichts, das ihn zur Beantragung nur einer geringeren Erstattung bei späteren entsprechende Ausfuhren veranlasst habe, entgangene Erstattungsbeträge nachzuzahlen. Die Behörde lehnte dies ab.
Hierüber kam es zum Rechtsstreit. Zu diesem hat der EuGH die eingangs wiedergegebene Vorabentscheidung getroffen.
Entscheidung
Der EuGH stützt seine Entscheidung maßgeblich auf den Grundsatz der Zusammenarbeit des Art. 10 EG. Dieser verpflichte die nationalen Behörden, ihre Entscheidungen, sofern sie einer später vom EuGH vorgenommenen Auslegung des Gemeinschaftsrechts nicht entsprechen, "unter bestimmten Umständen" zu "überprüfen", um zu entscheiden, inwieweit sie verpflichtet sind, diese Entscheidung zurückzunehmen. Diese – vier – "Umstände" sind diejenigen, die in dem eingangs wiedergegebenen Tenor der EuGH-Entscheidung aufgezählt sind.
Hinweis
1. Dies ist eine überraschende und in ihren Folgewirkungen schwer einzuschätzende Entscheidung! Sie hat außer für das Zoll- und Marktordnungsrecht für alle stark gemeinschaftsrechtlich geprägten Rechtsbereiche Bedeutung, insbesondere also für die Umsatzsteuer und die Verbrauchsteuern.
2. Auslegungsentscheidungen des EuGH haben – wie jede Entscheidung eines Gerichts über die richtige Auslegung des Rechts – nicht nur Bedeutung für die Zukunft, sondern verlautbaren lediglich, was seit jeher Sinn und Bedeutung der betreffenden Rechtsvorschrift war. Deshalb sind solche Entscheidungen – selbstverständlich – nicht nur für künftige Fälle zu beachten, sondern für alle Fälle, die unter die betreffende Rechtsvorschrift fallen.
3. Dieser Grundsatz steht, wie auf der Hand liegt, in Konflikt mit dem nicht weniger selbstverständlichen Grundsatz, dass Entscheidungen, die eine Rechtsvorschrift auf einen Einzelfall anwenden, in Bestandskraft (bzw. bei einer gerichtlichen Entscheidung: in Rechtskraft) erwachsen können. Wann das der Fall ist, regelt im Allgemeinen das einschlägige nationale Recht auch im Hinblick auf Entscheidungen, die materiell-rechtlich auf der Anwendung von Gemeinschaftsrecht beruhen.
4. Der EuGH akzeptiert in den Besprechungsentscheidungen das Rechtsinstitut der Bestands- und Rechtskraft. Es ist Ausprägung des Gebotes der Rechtssicherheit, das auch ein Gebot des Gemeinschaftsrechts ist. Der EuGH verlangt deshalb "grundsätzlich" nicht, dass eine Behörde eine bestandskräftige Entscheidung zurücknimmt (wenn sie nachträglich erkennt, dass diese rechtswidrig war).
5. Der EuGH schränkt diesen Grundsatz jedoch unter gewissen, im obigen Entscheidungsausspruch aufgelisteten Umständen ein. Liegen diese vor, soll die Behörde aber offenbar nicht strikt verpflichtet sein, ihre bestandskräftige, jedoch gemeinschaftsrechtswidrige Entscheidung zurückzunehmen; sondern sie soll nur verpflichtet sein, diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen.
Welche Maßstäbe sie bei der ihr vom EuGH insofern abverlangten Entscheidung über die Zurücknahme anzuwenden hat, bleibt dunkel. Auch der Generalanwalt hatte sich dazu nicht dezidiert geäußert; er hatte vielmehr nur beanstandet, dass die Behörde im Vorlagefall ...