Entscheidungsstichwort (Thema)
Geschäftsanteile des Schuldners an einer Wohnungsgenossenschaft zur Absicherung des Nutzungsverhältnisses über die von dem Schuldner und seiner Familie genutzte Erstwohnung als insolvenzfreies Vermögen
Leitsatz (amtlich)
Geschäftsanteile des Schuldners an einer Wohnungsgenossenschaft, die nicht zur Kapitalanlage, sondern lediglich zur Absicherung des Nutzungsverhältnisses über die von dem Schuldner und seiner Familie genutzte Erstwohnung bestimmt sind, gehören zum insolvenzfreien Vermögen.
Normenkette
InsO § 35 Abs. 1, § 80 Abs. 1, § 109 Abs. 1 S. 2; GenG § 66; InsO § 290 Abs. 1, § 313 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
In dem Insolvenzverfahren werden dem Schuldner aufgrund seines Antrags vom 19.10.2010 die Verfahrenskosten für das Eröffnungsverfahren und das eröffnete Insolvenzverfahren gestundet, soweit sie nicht im Verlaufe des Verfahrens aus der Insolvenzmasse gedeckt werden können (§ 4a Abs. 1, 3, § 209 Abs. 1 Nr. 1 InsO). Die Stundung gilt, wenn sie nicht zuvor aufgehoben wird (§ 4c InsO), bis zur Erteilung der Restschuldbefreiung.
Mit der Stundung ist nicht die Beiordnung eines Rechtsanwalts verbunden.
Tatbestand
I.
Der Schuldner, der die Eröffnung des Insolvenzverfahrens, Restschuldbefreiung und Stundung der Verfahrenskosten beantragt hat, bewohnt zusammen mit seiner Ehefrau und drei Kindern eine Wohnung der G-Wohnungsbau-genossenschaft e.G. in O, für die er monatlich ein Entgelt von 606 EUR zuzahlen hat. Er ist mit vier Anteilen in Höhe von insgesamt 820 EUR, die auch der Höhe seines potentiellen Auseinandersetzungsguthabens entsprechen, Mitglied der Genossenschaft. Der vom Insolvenzgericht beauftragte Sachverständige, Rechtsanwalt S, hat u.a. die Möglichkeit untersucht, durch die Kündigung der Mitgliedschaft und die Realisierung des Auseinander-setzungsguthabens einen Beitrag zur Kostendeckung zu erzielen (vgl. Gutachten vom 17.02.2011).
Entscheidungsgründe
II.
Die Stundung der Verfahrenskosten ist geboten, weil das verfügbare Schuldnervermögen zur Kostendeckung (§ 26 Abs. 1, § 54 InsO) voraussichtlich nicht ausreichen wird.
1.
Insbesondere ist der Betrag von 820 EUR, der als Auseinandersetzungs-guthaben bei einer Kündigung der Mitgliedschaft des Schuldners in der Genossenschaft zu erzielen wäre, nicht als Insolvenzmasse anzusetzen.
a)
Wie der Sachverständige festgestellt hat, ist das Recht des Schuldners zur Nutzung der Wohnung nach der Satzung und dem Dauernutzungsvertrag an die Mitgliedschaft in der Genossenschaft gebunden. Nichtmitglieder erhalten keine Wohnungen der Genossenschaft. Nach einer Kündigung ist ein Neuerwerb der Mitgliedschaft und des Nutzungsrechts nur möglich, wenn der Schuldner erneut vier Geschäftsanteile in Höhe von insgesamt 820 EUR erwirbt, die Einlagen voll einzahlt und ein zusätzliches Eintrittsgeld von 60 EUR entrichtet. Da der Schuldner derzeit Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (soziale Grundsicherung nach dem SGB II) bezieht, ist er hierzu nicht in der Lage.
b)
Unter diesen Umständen kommt eine Realisierung des Auseinander-setzungsguthabens zugunsten der künftigen Insolvenzmasse aus Rechtsgründen nicht in Betracht. Zwar hat der Bundesgerichtshof dem Insolvenzverwalter (oder Treuhänder nach § 313 InsO) das Recht zuge-sprochen, die Mitgliedschaft des Schuldners in einer Wohnungsgenossen-schaft zu kündigen und das Auseinandersetzungsguthaben in vollem Umfang zur Masse zu ziehen, selbst wenn dies den Verlust des Nutzungsrechts zur Folge hat (BGHZ 180, 185 = NZI 2009, 374; BGH ZVI 2009, 448 [BGH 17.09.2009 – IX ZR 63/09]; BGH WM 2009, 2280 = NJW-RR 2010, 157 [BGH 01.10.2009 – VII ZB 41/08]; BGH WM 2011, 134 = ZIP 2011, 90 [BGH 02.12.2010 – IX ZB 120/10]), doch kann dieser Ansicht in Fällen der vorliegenden Art nicht gefolgt werden. Bei der gebotenen lebensnahen wirtschaftlichen Betrachtung der gesamten Umstände ist das Verhältnis zwischen der Wohnungsgenossenschaft und dem Schuldner, der aufgrund seiner Mitgliedschaft eine ihrer Wohnungen nutzt, insolvenz-rechtlich nicht anders zu beurteilen als das Verhältnis zwischen einem Wohnungsvermieter und dem Mieter. Ein genossenschaftliches Wohnrecht hat für den Schuldner dieselbe existentielle Bedeutung wie für einen Mieter das Nutzungsrecht aus einem Wohnungsmietvertrag. Das Insolvenzverfahren für natürliche Personen würde sein Ziel, dem Schuldner einen wirtschaftlichen Neuanfang zu ermöglichen, weitgehend verfehlen, wenn es mit der Gefahr einer Obdachlosigkeit des Schuldners verbunden wäre (so zu Recht Begr. RegE InsOÄndG 2001, BT-Drucks. 14/5680, S. 27 zu Art. 1 Nr. 11 = § 109 Abs. 1 Satz 2 InsO; vgl. auch AG Duisburg, NZI 2000, 415).
Geschäftsanteile des Schuldners an einer Wohnungsgenossenschaft, die nicht zur Kapitalanlag...