RVG VV Nr. 3106 Nr. 3
Leitsatz
Eine fiktive Terminsgebühr nach Nr. 3106 Nr. 3 VV erhält der Anwalt nur in Verfahren mit vorgeschriebener mündlicher Verhandlung.
LSG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 10.9.2009 – L 1 B 158/09 SK E
Sachverhalt
Das einstweilige Anordnungsverfahren vor dem SG, in dem die Beschwerdegegnerin im Wege der Prozesskostenhilfe beigeordnet war, endete durch angenommenes Anerkenntnis, ohne dass eine Verhandlung stattgefunden hatte.
Die Beschwerdegegnerin machte daraufhin u.a. eine Verfahrensgebühr nach Nr. 3102 VV und eine fiktive Terminsgebühr nach Nr. 3106 Nr. 3 VV geltend. Die Urkundsbeamtin und das SG sind davon ausgegangen, dass eine Terminsgebühr angefallen sei. Hiergegen wendet sich der Bezirksrevisor mit seiner Beschwerde und beantragt, die fiktive Terminsgebühr völlig zu streichen. Die Beschwerde hatte insoweit Erfolg.
Aus den Gründen
Einziger Streitpunkt des Kostenverfahrens ist noch die Frage, ob die fiktive Terminsgebühr nach Nr. 3106 Nr. 3 VV in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes angesetzt werden darf. Diese Frage ist zu verneinen. Die fiktive Terminsgebühr nach Nr. 3106 Nr. 3 VV kann der Anwalt nur in solchen Verfahren geltend machen, in denen eine mündliche Verhandlung vorgeschrieben ist.
Der Wortlaut der Nr. 3106 VV verwendet mehrfach das Wort "Verfahren". Dieser Begriff lässt nicht erkennen, ob er sich nur auf Verfahren mit vorgeschriebener mündlicher Verhandlung bezieht. Die Vorbem. 3.2 Abs. 2 S. 2 VV schafft keine Klarheit. Danach bestimmen sich die Gebühren nach Abschnitt 1 (also Nr. 3100–3106 VV), wenn in der Sozialgerichtsbarkeit Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zu vergüten sind. Daraus folgt, dass das Wort "Verfahren" in Nr. 3106 VV sich auch auf Beschlussverfahren des einstweiligen Rechtsschutzes beziehen könnte, also Verfahren, in denen eine mündliche Verhandlung nicht zwingend vorgeschrieben ist (§§ 124 Abs. 3, 86 b Abs. 4 SGG). Legt man das Wort Verfahren so aus, bleibt in Nr. 3 allerdings der Satzteil "ohne mündliche Verhandlung endet" unklar. Dieser Satzteil wäre überflüssig, wenn der Gesetzgeber unter "Verfahren" sowohl solche mit vorgeschriebener Verhandlung wie auch solche mit freigestellter verstanden hätte. Die wörtliche Auslegung der Norm erbringt kein schlüssiges und überzeugendes Ergebnis.
Es ist deshalb mit Hilfe weiterer Auslegungsmöglichkeiten zu untersuchen, warum der Gesetzgeber den allgemeinen Grundsatz, dass der Anwalt nur für tatsächlich erbrachte Leistungen vergütet werden soll, in der Nr. 3106 VV durchbrochen hat. Die systematische Auslegung gibt Hinweise darauf, dass Nr. 3 nicht für alle Verfahren gelten kann. Denn die Nr. 3 ist durch "oder" mit den Regelungen in Nr. 1 und 2 verbunden. Die Nr. 1 besagt klar und deutlich, dass nur bei vorgeschriebener Verhandlung eine fiktive Verfahrensgebühr anfällt. Die Nr. 2 bezieht sich auf den Gerichtsbescheid, der nach Anhörung der Beteiligten in besonders einfachen Fällen ohne Verhandlung ergeht und an die Stelle eines Urteils tritt. Auch in den Fällen des § 105 Abs. 1 SGG ist eine mündliche Verhandlung eigentlich vorgeschrieben. Daher steht die Nr. 3 in systematischer Verbindung zu solchen Fällen, in denen grundsätzlich eine mündliche Verhandlung durchgeführt werden müsste. Das sind im SGG alle Fälle, in denen ein Urteil ergehen müsste, nicht jedoch die Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, die durch Beschluss entschieden werden (§§ 124 Abs. 3, 86 b Abs. 4 SGG). Dieser Zusammenhang weist deutlich darauf hin, dass auch die Nr. 3 sich als Ausnahme von dem allgemeinen Grundsatz der Anwaltsvergütung nur auf solche Verfahren bezieht, in denen eine mündliche Verhandlung vorgeschrieben ist.
Auch die Entstehungsgeschichte der Nr. 3106 VV spricht nicht für die Anwendung dieser Norm im Beschlussverfahren. Die Gesetzesbegründung zu Nr. 3106 VV findet sich bei der Nr. 3104 VV, die sich zwar auf Verfahren mit Streitwerten bezieht, aber ansonsten nahezu wortgleich identische Sachverhalte regelt und deshalb auch auf die Nr. 3106 VV bezogen werden kann. Zu Nr. 3104 VV ist in der Bundestagsdrucksache 15/1971, S. 212, ausgeführt, dass § 35 BRAGO (fiktive Verhandlungsgebühr nach entfallener, aber an sich vorgeschriebener Verhandlung) übernommen worden ist. In den Fällen der §§ 114 Abs. 3 und 116 Abs. 2 S. 2 BRAGO sollte statt der bisherigen halben nunmehr eine volle fiktive Verhandlungsgebühr gezahlt werden, weil ein Unterschied zu den Fällen des § 35 BRAGO nicht ersichtlich war. Damit erfolgte gebührenrechtlich eine Gleichstellung von Gerichtsbescheiden (§§ 84 Abs. 1 VwGO, 105 Abs. 1 SGG) mit den Fällen des § 35 BRAGO. Dies zeigt, dass sich der Gesetzgeber historisch von zwei Gesichtspunkten leiten ließ. Einmal sollten die Anwälte für die erwartete, aber ausgefallene Verhandlung dennoch eine Terminsgebühr erhalten (so beim Gerichtsbescheid). Zum anderen wollte der Gesetzgeber aber auch die Bereitschaft der Anwälte fördern, durch ihr prozessuales Verhalten dem Gericht Verhandlungen zu ersparen (wie beim angenommenen Anerkenntnis nach § 307 ZPO...