§§ 46 Abs. 1, 56 RVG; Nr. 7000 VV RVG
Leitsatz
- Die (nahezu) vollständige Ablichtung der Verwaltungsakte ist geboten und notwendig, wenn aufgrund Kongruenz zwischen streitgegenständlichem Zeitraum und Leistungszeitraum über mehrere Jahre andauernd die Berechnung von Einkommen streitentscheidend ist und es dabei auf einzelne Berechnungspositionen wie z.B. Werbungskosten innerhalb der letzten Jahre ankommen kann.
- In einem derartigen Fall ist es dem Bevollmächtigten nicht zuzumuten, die Verwaltungsakte zur Vermeidung unnötiger Fotokopien kleinteilig auf Doppel oder nicht zwingend notwendige Schriftstücke zu überprüfen.
LSG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 24.11.2020 – L 5 SF 301/20 B E
I. Sachverhalt
Streitig war im Ausgangsverfahren die Berechnung der Höhe des Leistungsanspruches für die Jahre 2007–2010 für den im Einzelhandel selbstständig tätigen Kläger, welcher aufstockend Grundsicherungsleistungen bezog und seinen Anspruch insgesamt in mehreren Verfahren geltend machte.
Der beigeordnete Rechtsanwalt fertigte eine vollständige Kopie der behördlichen Verwaltungsakten an.
Im Vergütungsfestsetzungsverfahren setzte die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle von den beantragten 253,60 EUR für insgesamt 1.574 gefertigte Fotokopien nach Nr. 7000 VV lediglich einen Betrag von 10,00 EUR für 20 Fotokopien zugunsten des beigeordneten Rechtsanwalts mit der Begründung fest, selbst bei großzügiger Betrachtung könne die Fertigung von Kopien lediglich in festgesetztem Umfang als notwendig angesehen werden. Weiterhin sei eine Ablichtung von innerbehördlichen Vorgängen und Bescheiden, welche dem Kläger ohnehin vorliegen würden, nicht erforderlich. Eine Plausibilitätsprüfung bzw. Anforderung der gefertigten Kopien erfolgte im Vergütungsfestsetzungsverfahren nicht.
Die mit der Erinnerung nach § 56 RVG angegriffene Festsetzung wurde durch das Sozialgericht aufgehoben und die Auslagen für sämtlich gefertigte Fotokopiekosten der Nr. 7000 VV antragsgemäß i.H.v. 253,60 EUR festgesetzt. Die Fertigung sämtlicher Kopien sei zur sachgerechten Bearbeitung der Rechtssache nach Durchsicht der anwaltlichen Handakte unter Zugrundelegung eines objektiven Maßstabs trotz erheblichen Umfangs erforderlich gewesen, da die Berechnung der Höhe des klägerischen Einkommens aus selbstständiger Tätigkeit über einen längeren Zeitraum notwendig gewesen war und es hierbei auch auf Einzelpositionen ankam. Wegen der Besonderheit des Falles sei es auf die Vollständigkeit der Akte angekommen.
Die durch den Bezirksrevisor als Erinnerungsgegner eingelegte Beschwerde wurde aufgrund grundsätzlicher Bedeutung der Sache durch den Senat gem. §§ 56 Abs. 2 S. 1, 33 Abs. 8 S. 1–3 RVG entschieden und als unbegründet abgelehnt.
II. Objektiver Maßstab eines sachkundigen Dritten
Das LSG sowie vorgehend auch das SG stellen bei Prüfung der Notwendigkeit bzw. Erforderlichkeit von Fotokopien auf einen objektiven Maßstab eines vernünftigen sachkundigen Dritten ab. Dem Anwalt stehe ein Ermessensspielraum zu, welche Unterlagen er in welchem Umfang aus behördlichen Akten kopiere. Dieser Ermessensspielraum sei lediglich dann überschritten, wenn durch juristisch nicht geschultes Hilfspersonal eine ungeprüfte Ablichtung der gesamten Gerichts- und Verwaltungsakte einschließlich solcher Schriftstücke, welche offensichtlich zur Mandatsbearbeitung ohne jeglichen Mehrwert seien, erfolge.
Dagegen wiederrum könne dem Prozessbevollmächtigten jedoch bei erster Akteneinsicht umfangreicher Verwaltungsakten nicht zugemutet werden, Schriftstücke kleinteilig auf deren Notwendigkeit zur Vervielfältigung zu lesen und zu prüfen. Kopien dürften lediglich nicht ohne sachliche Begründung zweimal angefertigt werden.
Die Prüfung einer Überschreitung der Ermessensausübung habe anhand der Grundsätze des § 46 Abs. 1 RVG zu erfolgen, wonach die Landes- bzw. Staatskasse grds. die Beweislast treffe. Dies gehe aus dem Wortlaut, der Systematik und der Entstehungsgeschichte des § 46 Abs. 1 RVG hervor.
Eine Ermittlung und Prüfung der Erforderlichkeit der Kopien sowie substantiierte Feststellung zur Kürzung der beantragten Auslagen habe im Festsetzungsverfahren nicht stattgefunden, sodass der Vergütungsfestsetzungsbeschluss allein deswegen aufzuheben war.
Gleichwohl der Bevollmächtigte nahezu die vollständige Verwaltungsakte des beklagten Jobcenters habe kopieren lassen, sei dies vorliegend unter Berücksichtigung der Umstände erforderlich gewesen, da es zur Berechnung des korrekten Leistungsanspruches auf das Einkommen aus selbstständiger Tätigkeit für den streitbefangenen Zeitraum (2007–2010) und damit durchaus auf Einzelpositionen innerhalb eines längeren Zeitraumes ankam. Es dürfte damit ein Großteil der Akte hinsichtlich der Einkommensberechnung unmittelbar oder zumindest mittelbar betroffen gewesen sein, sodass die gefertigten Kopien zur sachgemäßen Bearbeitung geboten und damit notwendig waren.
Nach bisheriger Rspr. des Schleswig-Holsteinischen LSG führte die ungeprüfte Ablichtung der gesamten Akten regelmäßig nicht zu einem Anspruch auf Erstattung der Kopierkosten. Habe der Bevollmächtigte keine Aus...