§§ 3, 14, 48, 56 RVG i.V.m. VV RVG

Leitsatz

  1. In Abweichung des Grundsatzes nach § 48 Abs. 4 S. 1 RVG der Gesamtverfahrensberücksichtigung kann das Gericht bei Vorliegen eines sachlichen Grundes eine zeitliche Begrenzung der Prozesskostenhilfebewilligung aussprechen, welche im Festsetzungsverfahren bindend ist.
  2. Versieht das Gericht den Beiordnungsbeschluss mit einer zeitlichen Begrenzung, ist lediglich die ab dem Wirksamwerden der Beiordnung erbrachte anwaltliche Tätigkeit in die Gebührenbestimmung des § 14 Abs. 1 RVG einzubeziehen.
  3. Auch bei einer Terminsdauer von einer Minute kann die halbe Mittelgebühr zur Terminsgebühr Nr. 3106 VV angemessen sein.

Thür. LSG, Beschl. v. 27.10.2020 – L 1 SF 285/19 B

I. Sachverhalt

Im zugrundeliegenden Hauptsacheverfahren wandten sich die Klägerinnen mit der am 20.11.2013 erhobenen Klage gegen einen Bescheid über die Ablehnung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II (betroffener Zeitraum: 1.7.–31.12.2012) in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.10.2013 unter Beantragung von PKH. In einem ersten gerichtlichen Termin vom 16.11.2015 (14:00–15:05 Uhr) wurden zwei weitere Verfahren der Klägerinnen mitverhandelt. Im Nachgang des Termins erfolgte weiterer Schriftverkehr.

Unter dem 24.3.2016 gingen die vollständigen Erklärungen über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Klägerinnen nebst notwendiger Unterlagen bei dem Sozialgericht ein. Mit Beschl. v. 30.3.2016 bewilligte der zuständige Spruchkörper des Sozialgerichts beiden Klägerinnen ab dem 24.3.2016 unter Beiordnung des Bevollmächtigten PKH ohne Ratenzahlungsverpflichtung.

In einem weiteren gerichtlichen Termin zur mündlichen Verhandlung vom 6.4.2016 wurde das Verfahren durch gerichtlichen Vergleich unter entsprechender Verpflichtung der Beklagten zur Nachzahlung beendet. Dieser Termin dauerte der Sitzungsniederschrift nach eine Minute (11:16–11:17 Uhr). Eine Regelung zur Kostenlast erfolgte im Vergleich nicht, vielmehr entschied das Gericht durch Beschluss, dass die Beteiligten Kosten einander nicht zu erstatten haben.

Der Bevollmächtigte der Klägerinnen beantragte sodann die Festsetzung und Auszahlung der anwaltlichen Vergütung als beigeordneter Rechtsanwalt aus der Staatskasse (PKH) i.H.v. insgesamt 1.232,84 EUR (Verfahrensgebühr Nr. 3102 VV 320,00 EUR zzgl. Mehrvertretungszuschlag Nr. 1008 VV für eine weitere Klägerin, Terminsgebühr Nr. 3106 VV 280,00 EUR, Einigungsgebühr Nr. 1006 VV 320,00 EUR, Pauschale für Post- und Telekommunikationsdienstleistungen Nr. 7002 VV 20,00 EUR zzgl. entsprechender Umsatzsteuer).

Gegen die antragsgemäße Festsetzung und Anweisung durch die Urkundsbeamtin des erkennenden Gerichts legte der Vertreter der Staatskasse als Beschwerdegegner und im Folgenden auch als Anschlussbeschwerdegegner Erinnerung nach § 56 RVG mit der Begründung ein, dass sämtliche anwaltlich erbrachten Tätigkeiten vor dem Zeitraum der Bewilligung der PKH nicht zu berücksichtigen und damit nicht aus der Landeskasse zu vergüten seien. Eine Bewilligungsreife des Antrages auf Bewilligung von PKH habe nicht bereits bei Anhängigkeit, sondern erst später vorgelegen.

Die zu zahlenden Gebühren blieben aufgrund des beschränkten Beiordnungszeitpunktes weit hinter einem Normallfall zurück. Auch sei die Terminsgebühr daher aufgrund einer Dauer von einer Minute auf die Mindestgebühr abzusenken.

Das SG setzte die Vergütung mit Beschluss niedriger als beantragt auf insgesamt 600,95 EUR fest, da die anwaltlich erbrachten Tätigkeiten vor dem Wirksamwerden der Beiordnung zutreffend nicht zu berücksichtigen wären. Eine Bewilligungsreife habe erst mit dem Eingang der PKH-Unterlagen am 24.3.2016 vorgelegen. Verfahrens- und Einigungsgebühr sind jeweils i.H.v. 150,00 EUR, die Terminsgebühr i.H.v. 140,00 EUR festgesetzt worden.

Gegen diesen Beschluss des SG legte der beigeordnete Rechtsanwalt als Beschwerdeführer und Anschlussbeschwerdegegner das Rechtsmittel der Beschwerde ein und legte die Billigkeit der erfolgten Gebührenbestimmung i.S.d. § 14 Abs. 1 RVG dar. Der Beschwerdegegner beantragte die Zurückweisung der Beschwerde und legte zugleich Anschlussbeschwerde unter weitergehender Minderung des Gebührenanspruches ein.

Das SG hat der Beschwerde sowie der Anschlussbeschwerde nicht abgeholfen.

II. Sachlicher Grund für Beiordnungsbeschränkung

Neben der Feststellung der Unbilligkeit der durch den beigeordneten Rechtsanwalt als Beschwerdeführer und Anschlussbeschwerdegegner beantragten Vergütung i.S.d. § 14 Abs. 1 RVG entschied das LSG, dass die anwaltlich vor Beiordnung erbrachten Tätigkeiten (Tätigkeiten vor dem 24.3.) im Rahmen der Gebührenbestimmung nicht zu berücksichtigen sind. Grds. seien gem. § 48 Abs. 4 RVG alle anwaltlich erbrachten Tätigkeiten ab dem Zeitpunkt der Beantragung der PKH sowie ferner solche Tätigkeiten im Verfahren über die PKH einschließlich der vorbereitenden Tätigkeit von der Beiordnung erfasst. Habe der Antragsteller jedoch durch sein Verhalten das Beiordnungs- bzw. Prüfungsverfahren verzögert, so bestehe ein sachlicher und rechtfertigender Grund für eine zeitlich...

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