RVG § 19; RVG VV Nr. 3201
Leitsatz
Zum ersten Rechtszug gehört eine Stellungnahme des Anwalts gegenüber seiner Partei zur prozessualen Situation im Berufungsverfahren oder eine (unaufgeforderte) Stellungnahme des Anwalts gegenüber seiner Partei zur Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung.
OLG Karlsruhe, Beschl. v. 20.1.2009–18 WF 207/08
Sachverhalt
Gegen das Urteil des FamG hatte die Beklagte Berufung eingelegt, das Rechtsmittel jedoch – nachdem sie zuvor einen Fristverlängerungsantrag zur Berufungsbegründung gestellt hatte – mit einem weiteren Schriftsatz wieder zurückgenommen. Das OLG legte ihr daraufhin die durch die Berufung entstandenen Kosten auf.
Mit Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten beantragte der Kläger sodann, die ihm im Berufungsverfahren entstandenen Anwaltskosten gegen die Beklagte festzusetzen. Er machte eine 1,1-Gebühr seiner Anwältin gem. Nrn. 3200, 3201 VV nebst Auslagen und Umsatzsteuer geltend. Der Rechtspfleger setzte die von der Beklagten angemeldeten Kosten antragsgemäß fest.
Dagegen richtet sich die sofortige Beschwerde der Beklagten. Sie rügt, dass ein Erstattungsanspruch in Höhe einer 1,1-Verfahrensgebühr nicht entstanden sei, da zwischen den Parteien ein Stillhalteabkommen vereinbart worden sei und die Rechtsanwältin des Klägers auch keine Tätigkeiten entfaltet habe, die über den Empfang und die Weiterleitung der Berufungsschrift an die eigene Partei hinausgegangen seien.
Der Kläger hat zwar eingeräumt, dass sich seine Prozessbevollmächtigte nicht mit einem Abweisungsantrag an das OLG gewandt hätte. Er sei jedoch über seine Rechtsanwältin über die Einlegung der Berufung informiert worden.
Die sofortige Beschwerde hatte Erfolg.
Aus den Gründen
Dem Kläger steht ein Kostenerstattungsanspruch für das Berufungsverfahren nicht zu. Denn seiner Rechtsanwältin sind im Berufungsverfahren keine Vergütungsansprüche entstanden.
Zwar liegen die Voraussetzungen einer 1,1-Gebühr gem. Nr. 3201 VV – einen Auftrag des Klägers für das Berufungsverfahren unterstellt (die von der Rechtsanwältin des Klägers vorgelegte Prozessvollmacht enthält kein Datum) – grundsätzlich vor. Der im Berufungsverfahren tätige Rechtsanwalt erhält eine Verfahrensgebühr für das "Betreiben des Geschäfts" (Vorbem. 3 Abs. 2 VV). Für das Entstehen der ermäßigten Verfahrensgebühr gem. Nr. 3201 VV ist ein Auftreten des Anwalts gegenüber dem Gericht – anders als für die volle Verfahrensgebühr gem. Nr. 3200 VV – nicht erforderlich; dies ergibt sich unmittelbar aus dem Gesetzeswortlaut zu Nr. 3201 Nr. 1 VV. Das "Betreiben des Geschäfts" kann sich beispielsweise auf eine Beratung des Mandanten oder auf die Beschaffung von Informationen beschränken. Bereits geringfügige Tätigkeiten des Anwalts, die in irgendeiner Weise der Durchführung des Verfahrens dienen, erfüllen die Voraussetzungen für eine Verfahrensgebühr (vgl. Hartmann, KostG, 36. Aufl. 2006, Nr. 3100 Rn 16 ff.).
Einem Vergütungsanspruch der Prozessbevollmächtigten des Klägers für das Berufungsverfahren steht jedoch § 19 Abs. 1 RVG entgegen. Selbst dann, wenn – was ebenfalls unterstellt wird – die Prozessbevollmächtigte des Klägers überprüft hätte, ob die Berufung der Gegenseite rechtzeitig eingelegt worden ist, würde dies für sie als bereits erstinstanzlich tätig gewesene Rechtsanwältin eine Neben- oder Abwicklungstätigkeit i.S.v. § 19 Abs. 1 RVG darstellen. Ihre Vergütung ist daher mit den erstinstanzlichen Gebühren bereits abgegolten, so dass eine gesonderte Geltendmachung einer Gebühr für das Berufungsverfahren gem. Nr. 3201 VV nicht in Betracht kommt.
Ausdrücklich gehört gem. § 19 Abs. 1 Nr. 9 RVG die Empfangnahme und Weiterleitung einer Rechtsmittelschrift an den Mandanten – wie vorliegend erfolgt – zu der (mit den erstinstanzlichen Gebühren abgegoltenen) Tätigkeit des Anwalts im ersten Rechtszug. Aus der Formulierung des Gesetzes ergibt sich, dass der Katalog der dem ersten Rechtszug zuzurechnenden Tätigkeiten in § 19 RVG nicht abschließend ist. Der Gesetzgeber hat in § 19 Abs. 1 S. 2 RVG – wie sich aus dem Wort "insbesondere" ergibt – lediglich beispielhaft einzelne Tätigkeiten aufgeführt, die nicht gesondert vergütet werden sollen. Entscheidend ist der Begriff der "Neben- und Abwicklungstätigkeit" in § 19 Abs. 1 S. 1 RVG.
Es ist in der Rspr. anerkannt, dass es bei einem Berufungsverfahren eine ganze Reihe verschiedener "Neben- und Abwicklungstätigkeiten" des erstinstanzlichen Anwalts gibt, die nicht gesondert vergütet werden. Insoweit gelten für § 19 Abs. 1 RVG die gleichen Grundsätze wie für die (gleichartige) frühere Regelung in § 37 Nr. 7 BRAGO (vgl. hierzu grundlegend BGH NJW 1991, 2084). Entscheidend ist, dass es um Tätigkeiten von eher geringem Umfang geht, die in der Regel sowohl vom Anwalt als auch vom Auftraggeber als eine Art Annex der erstinstanzlichen Tätigkeit verstanden werden und noch nicht als eine (vergütungspflichtige) Tätigkeit für das Berufungsverfahren, für das der Mandant im Einzelfall unter Umständen einen anderen Anwalt beauftragen möchte, der gesondert zu vergüten ist. Der BGH (...