Vom Wankelmut und vom Wagemut oder: Das hohe Lied vom Mehraugenprinzip
Wenn Politiker vom einen Tag auf den anderen ihre Entscheidungen revidieren, so wird dies oft als Wankelmütigkeit oder Charakterschwäche kritisiert. Wenn eine langjährige bewährte Rspr. plötzlich und unerwartet aufgehoben wird, so führt dies in weiten Kreisen zumindest zu Irritationen, teilweise auch zu harscher Kritik, insbesondere wenn sich die Änderung als ein dem Zeitgeist unangemessenes Hinterherlaufen darstellt.
Anders sieht es aus, wenn Obergerichte falsche Entscheidungen "kassieren" und von einer Sternstunde in der Rspr. kann gesprochen werden, wenn ein Gericht oder gar derselbe Senat den eigenen Fehler in einer neuen Entscheidung korrigiert.
Eine solche Sternstunde hat sich in Stuttgart am 21.4.2009 ereignet.
Bekanntlich hat die heftig kritisierte und auch vom Gesetzgeber missbilligte Deutung der Anrechnungsregeln in Vorbem. 3 Abs. 4 VV durch den BGH so manche Blüten in der Rspr. getrieben.
Besondere Beachtung fand die Entscheidung des Einzelrichters jenes Senats (vgl. AGS 2009, 512) der jetzt die Dinge wieder gerade rückt.
Der Einzelrichter hatte die merkwürdige Auffassung vertreten, wenn Rechtsanwälte für die außergerichtliche und dem gerichtlichen Verfahren vorangegangene Tätigkeit eine Vergütungsvereinbarung – ohne Anrechnungsregelung – getroffen hätten, dann entstehe zwar notgedrungen keine Geschäftsgebühr, eine solche sei dann aber gleichwohl – gewissermaßen fiktiv – in Höhe von 0,65 auf die Verfahrensgebühr des gerichtlichen Verfahrens anzurechnen, mit der Folge, dass die Festsetzung der Verfahrensgebühr nur in reduziertem Umfange vorgenommen werden könne.
Völlig zutreffend schließt sich der Senat des OLG Stuttgart nunmehr mit kurzer und prägnanter Begründung der anders lautenden Auffassung des OLG Frankfurt/M. und der einhelligen Literaturmeinung an.
Diese Auffassung entspricht auch inhaltlich dem in diesem Heft ebenfalls abgedruckten Beschluss des KG v. 5.2.2009.
Soweit N. Schneider in der Anm. zum Leitsatz 1 der Entscheidung des KG die – wohl zutreffende – Auffassung vertritt, eine Anrechnung über die Vorschrift der Anm. 3 Abs. 4 VV käme aber dann in Betracht, wenn die Parteien die Vergütungsvereinbarung lediglich über die Höhe des Gegenstandswertes oder über die Höhe des abzurechnenden Gebührensatzes getroffen hätten, sei eine weitere Fallvariante angesprochen:
Die Anrechnung einer anteiligen Geschäftsgebühr – trotz Vorhandenseins einer Vergütungsvereinbarung ohne Anrechnungsregelung – kommt sicherlich auch dann in Betracht, wenn der betroffene Rechtsanwalt für seinen Mandanten im Hauptsacheverfahren erfolgreich eine fiktive Geschäftsgebühr unter dem Gesichtspunkt des Verzugsschadens hat titulieren lassen.
Bei der außergerichtlichen Vergütung kann nach diesseitiger Auffassung die Erstattungsfrage nicht anders gehandhabt werden als bei der gerichtlichen Vergütung. Hat der Rechtsanwalt für das gerichtliche Verfahren eine höhere Gebühr als die gesetzliche Vergütung rechtswirksam mit seinem Mandanten (etwa hoher Pauschalbetrag oder Abrechnung nach Zeitaufwand) vereinbart, so beschränkt sich der im Kostenfestsetzungsverfahren zu berücksichtigende Erstattungsanspruch auf die gesetzlichen Gebühren.
Ähnlich wird man abzurechnen haben, wenn der Rechtsanwalt für die außergerichtliche Tätigkeit von seinem Mandanten aufgrund getroffener Vereinbarung eine höhere Vergütung als die Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV vereinnahmt hat. Eine solche Vereinbarung betrifft grundsätzlich nur das Innenverhältnis zwischen Rechtsanwalt und Auftraggeber. Liegt ein materiell-rechtlicher Erstattungsanspruch gegen einen Dritten vor, etwa unter dem Gesichtspunkt des Verzugsschadens, beschränkt sich der Erstattungsanspruch auf die gesetzliche Gebühr und ist dann – bei Titulierung im Hauptverfahren – im Kostenfestsetzungsverfahren anteilig und fiktiv zu berücksichtigen.
Diese Betrachtung findet im Übrigen auch Eingang in die zu erwartende und vom Bundestag bereits verabschiedete Neuregelung von § 15a RVG.
In Abs. 1 dieser Vorschrift wird klargestellt, dass durch die Anrechnung nur das Innenverhältnis zwischen dem Rechtsanwalt und dem Auftraggeber geregelt wird und dass im Außenverhältnis beide Gebührenansprüche grundsätzlich unangetastet bleiben.
Abs. 2 stellt dann weiterhin klar, dass eine Doppeltitulierung zu verhindern ist und sich der Dritte ausnahmsweise auf die Anrechnung dann berufen kann, wenn auch die Geschäftsgebühr bereits in voller Höhe gegen den Erstattungspflichtigen tituliert wurde oder von ihm bereits beglichen wurde.
Durch diese begrüßenswerte Gesetzesnovelle werden nach diesseitiger Auffassung auch "Altfälle" zufriedenstellend geregelt, da die Gesetzesbegründung deutlich macht, dass dem neuen § 15a RVG im Grunde genommen nur eine Klarstellungsfunktion der bisherigen Anrechnungsregeln (vgl. § 118 Abs. 2 BRAGO und Vorbem. 3 Abs. 4 VV) beizumessen ist.
Herbert P. Schons