Teil 4 Abschnitt 1, Nr. 4100 VV RVG
Leitsatz
Auch der nur für einen Hauptverhandlungstag bestellte "Terminsvertreter" des Pflichtverteidigers verdient die Grundgebühr.
LG Kiel, Beschl. v. 13.5.2024 – 2 KLs 590 Js 56426/20 jug.
I. Sachverhalt
Der Rechtsanwalt war dem Beschuldigten für einen von vier Hauptverhandlungstagen als Terminsvertreter des (verhinderten) Pflichtverteidigers beigeordnet worden. Das LG hat auch die Grundgebühr Nr. 4100 VV für den Terminsvertreter festgesetzt.
II. Volle Vergütung für den Terminsvertreter
1. Der Meinungsstand
Die Frage der Vergütung eines Pflichtverteidigers, der anstelle des an einzelnen Hauptverhandlungstagen verhinderten Pflichtverteidigers – wie hier – für einen Hauptverhandlungstag beigeordnet worden ist, ist in Rspr. und Lit. umstritten.
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Teilweise wird angenommen, dass dieser sog. "Terminsvertreter" nur die Terminsgebühr erhalte, weil er lediglich als Vertreter des die Verteidigung insgesamt führenden Pflichtverteidigers beigeordnet worden sei und der Vertreter für die Wahrnehmung des Hauptverhandlungstermins keine höhere Vergütung beanspruchen könne, als es der vertretene Pflichtverteidiger hierfür könne (so etwa KG, Beschl. v. 18.2.2011 – 1 Ws 38/09; OLG Brandenburg, Beschl. v. 25.8.2009 – 2 Ws 111/09, AGS 2011, 280; OLG Celle, Beschl. v. 25.8.2006 – 1 Ws 423/06; OLG Dresden, Beschl. v. 5.9.2007 – 1 Ws 155/07; Mayer/Kroiß/Kroiß, RVG, 8. Aufl., 2021, VV 4100, Rn 20). |
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Nach anderer Ansicht steht dem weiteren Pflichtverteidiger für die "Terminsvertretung" hingegen die volle Vergütung nach Abschnitt 1 des Teiles 4 VV zu, die auch die Grundgebühr für die (notwendige) Einarbeitung in den Fall umfasst (so etwa: OLG Düsseldorf, Beschl. v. 29.10.2008 – III-1 Ws 318/08; OLG Hamm, Beschl. v. 23.3.2006 – 3 Ws 586/05, AGS 2007, 37; OLG Jena, Beschl. v. 14.4.2021 – (S) AR 62/20, Rn 18, AGS 2021, 394; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 16.7.2008 – 3 Ws 281/08, NJW 2008, 2935 = AGS 2008, 488; OLG Köln, Beschl. v. 26.3.2010 – 2 Ws 129/10, AGS 2011, 286; OLG München, Beschl. v. 23.10.2008 – 4 Ws 140/08; Beschl. v. 27.2.2014 – 4c Ws 2/14, AGS 2014, 174; OLG Nürnberg, Beschl. v. 13.11.2014 – 2 Ws 553/14, AGS 2015, 29; Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl., 2021, Nr. 4100 VV Rn 10; Toussaint/Felix, Kostenrecht, 54. Aufl., 2024, Vorbemerkung 4.1, Rn 15; BeckOK RVG/Knaudt, 63. Ed., Stand: 1.3.2024, RVG VV Vorbemerkung 4, Rn 19 ff.). |
2. Die Auffassung des LG Kiel
Das LG Kiel hat sich der letztgenannten Ansicht angeschlossen. Der Rechtsanwalt war in jenem Fall für den Hauptverhandlungstag vom 14.7.2023 uneingeschränkt als Pflichtverteidiger beigeordnet worden mit allen daraus folgenden Rechten und Pflichten. Bei seiner Tätigkeit als Pflichtverteidiger habe es sich – so das LG – trotz der zeitlichen Beschränkung auf einen Verhandlungstag nicht um eine Einzeltätigkeit i.S.d. Nr. 4301 VV gehandelt, die eine geringere Vergütung als bei einer "Vollverteidigung" rechtfertigen würde. Der Rechtsanwalt sei dem Angeklagten zwar nicht insgesamt in dem Verfahren als Pflichtverteidiger bestellt worden, sondern nur für den einzelnen Termin, während i.Ü. weiterhin Rechtsanwalt H als Verteidiger beigeordnet war. Gleichwohl stelle diese "Terminsvertretung" keine Einzelaufgabe aus dem Arbeitsbereich des Verteidigers dar. Die StPO kenne keine Beiordnung eines Verteidigers lediglich als Vertreter des bereits bestellten Pflichtverteidigers.
Auch die Bestellung für nur einen Verhandlungstag begründet nach den weiteren Ausführungen des LG Kiel ein eigenständiges öffentlich-rechtliches Beiordnungsverhältnis, kraft dessen der bestellte Verteidiger für die Dauer der Bestellung die Verteidigung des Angeklagten umfassend eigenverantwortlich und inhaltlich unbeschränkt zu übernehmen habe. Anlass zu einer gebührenbezogenen Herabstufung neben dem i.Ü. bestellten Verteidiger gebe es daher nicht. Aus der Eigenständigkeit des jeweiligen Beiordnungsverhältnisses folge vielmehr, dass die anwaltlichen Tätigkeiten der jeweiligen Pflichtverteidiger separat zu bewerten und vergüten seien. Zur interessengerechten Verteidigung, wenn auch nur in einem Hauptverhandlungstermin, sei auch für den Rechtsanwalt eine Einarbeitung mit der Übernahme des Mandats notwendig gewesen, sodass die Voraussetzungen für das Entstehen der Grundgebühr vorgelegen haben. Danach stehe dem Rechtsanwalt zur Abgeltung der gesamten Tätigkeit neben der Terminsgebühr auch eine Grundgebühr nach Nr. 4100 VV zu.
III. Bedeutung für die Praxis
Eine der vielen Entscheidungen aus der letzten Zeit, die die Streitfrage zutreffend löst (vgl. nur OLG Brandenburg AGS 2024, 171; OLG Karlsruhe AGS 2023, 164 = NStZ-RR 2023, 159). Die einzige noch offene Frage, die sich hier stellt, ist: Geht das LG davon aus, dass nur Grundgebühr und Terminsgebühr entstehen, oder ist auch die Verfahrensgebühr festgesetzt worden? Das lässt sich aus der Entscheidung nicht eindeutig entnehmen, die vom LG zitierte Rspr. und die Formulierung "volle Vergütung nach Abschnitt 1 des Teiles 4 VV" sprechen allerdings für diese richtige Lösung, die man m.E. inzwischen als h.A. bezeichnen ...