Nr. 3102 VV RVG; §§ 1, 3 Abs. S. 1, 14 Abs. 1, 56 Abs. 2 RVG
Leitsatz
- Auch Streitigkeiten, in welchen Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II nicht dem Grunde nach streitig sind, haben grundsätzlich eine überdurchschnittliche Bedeutung.
- Zwei Besprechungen mit der Klägerin mit einer Dauer von insgesamt einer Stunde sind nicht durchschnittlich umfangreich.
- Eine unterdurchschnittliche Verfahrensgebühr ist dann gerechtfertigt, wenn trotz der erheblichen Bedeutung der Angelegenheit keine zeitintensiven Tätigkeiten im Verfahren angefallen sind.
LSG NRW, Beschl. v. 1.7.2021 – L 19 AS 404/21 B
I. Sachverhalt
Streitig war im Grundverfahren vor dem SG der Eintritt einer Sanktion nach § 31 Abs. 2 Nr. 4 SGB II (Pflichtverletzung Eingliederungsvereinbarung) bzw. die Minderung der SGB II-Leistungen um insgesamt 598,50 EUR. Hierbei war der vorgenannte Betrag auf mehrere Monate zu verteilen. Die Schriftsätze der beigeordneten Rechtsanwältin waren im laufenden Verfahren vergleichsweise kurz, es ist eine knapp zweiseitige Klageschrift gefertigt worden. Daneben fanden zwei Besprechungen mit der Klägerin zur Terminsvorbereitung statt.
Die beantragte Mittelgebühr zur Verfahrensgebühr Nr. 3102 VV (Anmerkung: RVG a.F.) ist gekürzt und auf einen Betrag von 200,00 EUR festgesetzt worden, da vorliegend nicht der Leistungsanspruch dem Grunde nach streitig war. Die Bedeutung der Angelegenheit sei daher gemindert.
Gegen die Festsetzung legte die Rechtsanwältin Erinnerung ein und führte aus, dass unter Berücksichtigung der Kriterien des § 14 RVG von einer durchschnittlichen Angelegenheit auszugehen sei. Die über mehrere Wochen zu verteilende Minderung des Leistungsanspruches von insgesamt 598,50 EUR sei für die Klägerin sehr wohl von überdurchschnittlicher Bedeutung.
Das Sozialgericht teilte die Auffassung und gab der Erinnerung statt. Die Höhe des streitigen Betrages sei von existenzieller Bedeutung, daher sei – unter Berücksichtigung der fallbezogenen Schwierigkeit und des Umfangs – die Mittelgebühr angemessen.
Auf die Beschwerde des Bezirksrevisors als Beschwerdeführer ist der erstinstanzliche Beschluss aufgehoben worden und die Verfahrensgebühr Nr. 3102 VV wegen Unterdurchschnittlichkeit auf den seitens der Urkundsbeamtin zuerkannten Betrag i.H.v. 200,00 EUR festgesetzt.
II. Bedeutung der Angelegenheit
Im Rahmen der Beschwerde hatte der Beschwerdeführer argumentiert, dass Streitigkeiten, in welchen ein Leistungsanspruch nicht dem Grunde nach streitig sei, grds. keine durchschnittliche oder überdurchschnittliche Bedeutung haben und daher eine geminderte Tätigkeitsgebühr anfalle.
Unter Verweis auf die höchstrichterliche Rspr. des BSG (Urt. v. 1.7.2009 – B 4 AS 21/09 R) hat der 19. Senat dagegen ausgeführt, dass Streitigkeiten über Leistungen, welche das soziokulturelle Existenzminimum sichern, wie Streitigkeiten über Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II, in aller Regel überdurchschnittlich bedeutsam sind. Dies gelte unabhängig davon, ob Leistungen dem Grunde nach oder die Höhe einer bereits bewilligten Leistung umstritten sind.
Eine pauschale Minderung der Bedeutung aufgrund des Streitgegenstandes (nicht dem Grunde nach im Streit stehende Grundsicherungsleistungen) ist nicht sachgerecht.
Denn in entsprechender Anwendung der im Urteil des BSG (a.a.O.) aufgestellten Grundsätze, dass allenfalls monatliche EUR-Beträge im einstelligen Bereich für einen kurzen streitigen Zeitraum von längstens sechs Monaten eine durchschnittliche wirtschaftliche Bedeutung der Angelegenheit für den Auftraggeber haben, sind auch solche Verfahren selbst bei Kleinstbeträgen für die KlägerInnen subjektiv sehr bedeutsam.
Das Merkmal der Bedeutung allein ist demnach nicht hinreichend geeignet, die anwaltliche Tätigkeit und damit den Vergütungsanspruch sachgerecht und zielführend abzubilden.
Auch der 21. Senat des LSG NRW (Beschl. v. 7.12.2020 – L 21 AS 550/20 B) hatte bereits entschieden, dass sich selbst bei einer hohen Rückforderungssumme von 3.461,42 EUR und einer sonst unterdurchschnittlichen anwaltlichen Tätigkeit (Umfang und Schwierigkeit) nur im Ergebnis ein geminderter Vergütungsanspruch ergäbe. Dies sei jedoch der Fall, wenn eine regelmäßig im SGB-II Bereich unübersichtliche Bescheidlage nicht vorlag, keinerlei Berechnungen erfolgen mussten und der Grund der Rückforderung glasklar ersichtlich sei.
III. Umfang und Schwierigkeit
Im Verfahren sind neben der zweiseitigen Klageschrift zwei Besprechungen mit der Klägerin erfolgt, welche eine Gesamtdauer von einer Stunde nach Ermittlungen des Senats aufwiesen.
In diesen Mandantenterminen sind neben der Vorbereitung auf den gerichtlichen Verhandlungstermin Auszüge der Verwaltungsakte besprochen worden. Weitere zeitintensive Tätigkeiten wie etwa eine Akteneinsicht, Stellungnahme zu medizinischen Gutachten oder Befundscheinen, Rspr.-Recherche oder eingehende juristische Auseinandersetzung hatten nicht stattgefunden.
Dem Senat nach sei der Zeitaufwand für die Mandantengespräche von einer Stunde unter Berücksichtigung der in der Lit. vertretenen Dauer von zwei bis fünf Stunden unterdurchschnittlich.
Dies berüc...