§ 467 StPO; §§ 46, 47 OWiG
Leitsatz
- Nach verfassungsrechtlicher und höchstrichterlicher Rechtsprechung ist in Fällen groben prozessualen Unrechts dem Betroffenen, dem ggf. an sich kein Rechtsmittel zusteht, ein außerordentlicher Rechtsbehelf in Form einer einfachen Beschwerde zuzugestehen.
- Erfolgt eine Einstellung, wie z.B. nach § 47 Abs. 2 OWiG, nach einer dem Gericht Ermessen einräumenden Vorschrift, räumt § 467 Abs. 4 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG dem Gericht Ermessen auch hinsichtlich der Entscheidung über die notwendigen Auslagen des Betroffenen ein. Dabei ist aber als Ausgangspunkt zu beachten, dass in solchen Fällen hinsichtlich der notwendigen Auslagen des Betroffenen grundsätzlich § 467 Abs. 1 StPO gilt.
LG Wiesbaden, Beschl. v. 7.6.2024 – 2 Qs 47/24
I. Sachverhalt
Gegen den Betroffenen wurde wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung ein Bußgeldbescheid erlassen und darin eine Geldbuße von 100,00 EUR festgesetzt. Nach Einspruch des Betroffenen und Abgabe des Verfahrens von der Verwaltungsbehörde an das AG hat der Verteidiger des Betroffenen dort dessen Fahrereigenschaft bestritten und die Einholung eines morphologischen Gutachtens beantragt. Nach Aufforderung durch das AG benannte der Verteidiger dann den (angeblichen) tatsächlichen Fahrer. Der Betroffene reichte zudem eine Erklärung des tatsächlichen Fahrers, nach welcher dieser das Tatfahrzeug zur Tatzeit geführt haben will, sowie Lichtbilder des tatsächlichen Fahrers und seiner Person zur Akte.
Das AG hat den Betroffenen daraufhin zu einer Einstellung des Verfahrens nach § 47 Abs. 2 OWiG – bei Erstattung auch der notwendigen Auslagen des Betroffenen – angehört, zu welcher der Betroffene sein Einverständnis erklärte. Das AG hat das Bußgeldverfahren dann gem. § 47 Abs. 2 OWiG eingestellt. Hinsichtlich der Kosten wurde tenoriert: "Die Kosten des Verfahrens trägt die Staatskasse". Eine ausdrückliche Auferlegung der notwendigen Auslagen erfolgte nicht.
Der Verteidiger hat für den Betroffenen Rechtsmittel gegen den Einstellungsbeschluss eingelegt. Zur Begründung führt er an, dass das Gericht entgegen der Ankündigung der Staatskasse nicht auch die notwendigen Auslagen des Betroffen auferlegt habe. Das AG hat das Rechtsmittel als sofortige Beschwerde ausgelegt und die Akte dem LG zur Entscheidung vorgelegt. Dort hatte das Rechtsmittel Erfolg.
II. Zulässigkeit/Auslegung des Rechtsmittels
Das LG hat den vom Verteidiger eingelegten Rechtsbehelf als außerordentliche Beschwerde ausgelegt. Zur Begründung führt es aus:
Würde man das Rechtsmittel als sofortige Beschwerde ("Kostenbeschwerde") gegen die Kostengrundentscheidung hinsichtlich der notwendigen Auslagen des Betroffenen auslegen, wäre die sofortige Beschwerde unstatthaft. Nach § 47 Abs. 2 S. 3 OWiG sei ein nach § 47 Abs. 2 S. 1 OWiG ergangener Beschluss nicht anfechtbar, sodass auch die Anfechtbarkeit der Kostenentscheidung ausgeschlossen sei (§ 464 Abs. 3 S. 1 Hs. 2. StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG). Der Rechtsbehelf könne auch nicht als Gegenvorstellung ausgelegt werden, da damit das primäre Ziel des Betroffenen, eine Änderung der Kosten- und Auslagenentscheidung herbeizuführen, nicht erreicht werden könne (vgl. A. Bücherl, in: Graf (Hrsg.), BeckOK OWiG, 41. Ed., Stand: 1.1.2024, § 47 Rn 54 m.w.N.). Schließlich scheide auch eine Auslegung des Rechtsbehelfs als Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Nichtgewährung rechtlichen Gehörs nach § 33a StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG aus, da dies voraussetzt, dass dem AG ein Fehler im Anhörungsverfahren unterlaufen wäre und es infolgedessen zu einer fehlerhaften Hauptsacheentscheidung gekommen wäre, die im Wege des Verfahrens nach § 33a StPO zu korrigieren wäre und mit der eine Abänderung der an sich unanfechtbaren Kosten- und Auslagenentscheidung einhergehen könnte. So liege der Fall hier aber nicht.
Indes sei – so das LG – nach verfassungsrechtlicher und höchstrichterlicher Rspr. in Fällen groben prozessualen Unrechts dem Betroffenen ein außerordentlicher Rechtsbehelf in Form einer einfachen Beschwerde zuzugestehen. Das BVerfG führe dazu in seinem Kammerbeschluss vom 15.8.1996 (2 BvR 662/95, NJW 1997, 46) aus: “Bereits in der Rspr. des Reichsgerichts war anerkannt, dass gerichtliche Entscheidungen, gegen die ein ordentlicher Rechtsbehelf nicht mehr statthaft ist, ausnahmsweise zurückgenommen werden können, wenn sie auf einer unrichtigen tatsächlichen Grundlage ergangen waren; diese Rspr. galt selbst für der vollen Rechtskraft fähige Beschlüsse, etwa im Revisionsverfahren (vgl. RGSt 59, 420). Diese Rspr. ist vom BGH (vgl. BGH MDR 1951, S. 771) und ihm folgend von der obergerichtlichen Rspr. übernommen und fortgesetzt worden (vgl. nur OLG Stuttgart, MDR 1982, S. 341, 342; OLG Celle NStZ 1983, 328, 329; OLG Rostock NZV 1994, 287, 288, jeweils m.w.N.). Geht es um die Beseitigung groben prozessualen Unrechts, ist es danach grds. zumutbar, Abhilfe zunächst durch Einlegung auch eines außerordentlichen Rechtsbehelfs im fachgerichtlichen Verfahren zu suchen." So liege der Fall hier: Die mit der Verfahrenseinstellung nach § 47 Abs. 2 OWiG verbunde...