§ 9 StrEG; § 170 Abs. 2 StPO
Leitsatz
Ist die Einstellungsverfügung entgegen § 9 Abs. 1 S. 4 StrEG nicht zugestellt worden, kann der Zustellungsmangel nicht nach § 37 Abs. 1 StPO mit § 189 ZPO dadurch geheilt werden, dass der Verteidiger später Einsicht in die Ermittlungsakte nimmt. Die Monatsfrist läuft daher nicht an.
LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 24.8.2021 – 12 Qs 58/21
I. Sachverhalt
Die Staatsanwaltschaft hat gegen den ehemaligen Beschuldigten ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt geführt. Nach mehreren Durchsuchungen stellte die sachbearbeitende Staatsanwältin das Ermittlungsverfahren mit Verfügung vom 16.6.2021 nach § 170 Abs. 2 StPO ein und verfügte zugleich deren formlose Mitteilung an die beiden Verteidiger des Beschuldigten. Am 21.6.2021 nahm einer der Verteidiger des Beschuldigten Einsicht in die Ermittlungsakte.
Am 28.7.2021 beantragte einer der Verteidiger beim zuständigen Amtsgericht, die Verpflichtung der Staatskasse zur Entschädigung für die Durchsuchungen festzustellen. Weiterhin beantragte er, dem Beschuldigten eine Entschädigung i.H.v. 401,50 EUR zu gewähren. Das Amtsgericht lehnte den Antrag als verfristet ab. Die Verteidiger hätten nämlich von der Einstellungsverfügung bereits durch Akteneinsicht vom 21.6.2021 Kenntnis gehabt. Das Rechtsmittel des Verteidigers hatte beim LG teilweise Erfolg.
II. Feststellungsantrag
Die sofortige Beschwerde hatte Erfolg, soweit der Beschuldigte die Abweisung seines Feststellungsantrags angegriffen hat. Dessen formelle und materielle Voraussetzungen waren nach Auffassung des LG nämlich gegeben. Gegen den Beschuldigten seien entschädigungspflichtige Ermittlungsmaßnahmen durchgeführt worden (§ 2 Abs. 2 Nr. 4 StrEG).
Es liege auch ein i.S.d. § 9 Abs. 1 S. 4 StrEG fristgemäßer Entschädigungsantrag vor. Entgegen der gesetzlichen Vorgabe (§ 9 Abs. 1 S. 4 StrEG: "nach Zustellung") und der eigenen Mitteilung in der der Einstellungsverfügung beigelegten Belehrung habe die Staatsanwaltschaft keine (förmliche) Zustellung, sondern lediglich eine formlose Mitteilung ihrer Einstellungsverfügung veranlasst. Die Frist des § 9 Abs. 1 S. 4 StrEG beginne allerdings erst, wenn die Einstellung (förmlich) zugestellt worden ist (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 9 StrEG, Rn 5). Daran fehle es.
Das LG folgt nicht der Auffassung des Amtsgerichts, wonach die Gewährung der Einsicht in die Akte an die Verteidiger am 21.6,2021 – in der die zuvor getroffene Einstellungsverfügung in der Urschrift enthalten war – den Zustellungsmangel nach § 37 Abs. 1 StPO mit § 189 ZPO hätte heilen können, mit der Folge, dass die Monatsfrist bereits am 21.7.2021 abgelaufen gewesen wäre (s. auch wie hier BGH, Beschl. v. 19.6.2019 – IV ZR 224/18; BayObLG NJW 2004, 3722; OLG Nürnberg, Urt. v. 1.8.2019 – 13 U 1667/17 und Urt. v. 5.11.1981 – 8 U 351/81, MDR 1982, 238; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 21.3.2019 – 1 OWi 2 Ss Rs 76/18; Zöller/Schultzky, ZPO, 33. Aufl., § 189 Rn 4; MüKo ZPO/Häublein/Müller, 6. Aufl., § 189 Rn 13). Sähe man es anders, wäre der Verteidiger i.Ü. aus Gründen anwaltlicher Vorsicht genötigt, die komplette Akte durchzusehen um festzustellen, ob sich dort zuzustellende Dokumente finden. Der Sinn der Akteneinsicht liege aber nicht darin, Haftungsfallen für den Anwalt aufzustellen, sondern allein darin, ihm die Information zu gewähren, die er braucht. Nichts anderes folge aus dem Beschluss des OLG Hamm vom 8.8.2017 (3 RBs 106/17, DAR 2017, 642). Das OLG habe erwogen, dass durch die Einsichtnahme des Verteidigers in die Bußgeldakte, in der sich der zuzustellende Bußgeldbescheid befindet, ein tatsächlicher oder nachweisbarer Zugang i.S.d. Heilungsvorschriften bewirkt werden kann, sofern zuvor ein auf eine förmliche Zustellung gerichteter Zustellungswille dokumentiert ist. Ob dem zu folgen sei, könne dahinstehen, denn an der genannten Voraussetzung fehle es bereits: Die Staatsanwaltschaft habe ihre Einstellungsverfügung gerade formlos versenden wollen, sodass der Zustellungswille fehle.
Die Heilung des Zustellungsmangels sei somit erst mit dem tatsächlichen Zugang der Einstellungsverfügung beim Verteidiger eingetreten (§ 37 Abs. 1 StPO mit § 189 ZPO). Dieser gebe den Zeitpunkt ihres Zugangs in der Beschwerde mit dem 28.6.2021 an. Das sei nicht zu widerlegen. Der am 28.7.2021 beim Amtsgericht eingegangene Entschädigungsantrag erfolgte somit in der Monatsfrist.
III. Bezifferter Entschädigungsanspruch
Unbegründet war die sofortige Beschwerde des ehemaligen Beschuldigten, soweit sich der Beschuldigte zugleich dagegen gewehrt hat, dass sein bezifferter Entschädigungsanspruch über 401,50 EUR abgewiesen worden ist. Das Zusprechen bezifferter Zahlungsansprüche falle nämlich nicht in die Kompetenz des angegangenen Amtsgerichts. Denn wie bei der Entscheidung nach § 8 StrEG habe das Gericht im Fall des hier anwendbaren § 9 StrEG nur über den Grund der Entschädigung zu entscheiden, nicht zugleich über die Höhe. Letztere bleibt dem Betragsverfahren vorbehalten, für welches die (Grund-)Entscheidung nach § 9 StrEG Bindungswirkung erzeuge....