§ 14 RVG; Nrn. 4100, 7003, 7005 VV RVG
Leitsatz
- Die Mittelgebühr ist lediglich Ausgangspunkt der Ermessensausübung des Rechtsanwalts. Soweit eines der Kriterien des § 14 Abs. 1 S. 1 RVG von dem Durchschnitt abweicht, ist dies Anlass für den Rechtsanwalt, von der Mittelgebühr nach oben oder nach unten abzuweichen.
- Die Beauftragung eines auswärtigen Verteidigers ist nur beim Vorliegen besonderer Umstände notwendig. Fehlt es daran, kann der auswärtige Verteidiger nur Fahrtkosten abrechnen, soweit diese auf den Teil der Wegstrecke innerhalt des Gerichtsbezirks entfallen.
LG Hamburg, Beschl. v. 6.4.2022 – 628 Qs 19/21
I. Sachverhalt
Das AG hat den Angeklagten vom Vorwurf der falschen Verdächtigung freigesprochen und seine notwendigen Auslagen der Staatskasse auferlegt. Die geltend gemachten Auslagen sind nur zum Teil festgesetzt worden. Statt einer Grundgebühr von 200,00 EUR, was der Mittelgebühr nach altem Recht entsprochen hat, wurden lediglich 110,00 EUR festgesetzt. Ebenfalls nicht festgesetzt wurden Fahrtkosten von 2 x 171,60 EUR für jeweils 572 km-Anreise mit dem eigenen Pkw und Tage- und Abwesenheitsgelder für eine Geschäftsreise i.H.v. 2 x 70,00 EUR. Das dagegen gerichtete Rechtsmittel des Angeklagten hatte nur hinsichtlich der Reisekosten zu einem geringen Teil Erfolg.
II. Grundgebühr Nr. 4100 VV
Das LG ist mit dem AG der Auffassung, dass die Grundgebühr Nr. 4100 VV nur i.H.v. 110,00 EUR festzusetzen ist. Bei Rahmengebühren bestimme gem. § 14 Abs. 1 S. 1 RVG der Rechtsanwalt die Gebühr im Einzelfall nach billigem Ermessen unter Berücksichtigung aller Umstände. Sei die Gebühr von einem Dritten zu ersetzen, sei die von dem Rechtsanwalt getroffene Bestimmung nicht verbindlich, wenn sie unbillig sei (§ 14 Abs. 1 S. 4 RVG). Das sei hier der Fall.
1. Grundsätze der Gebührenbestimmung nach § 14 Abs. 1 S. 1 RVG
Dritter i.S.v. § 14 Abs. 1 S. 4 RVG sei insbesondere auch die Staatskasse, die nach § 467 Abs. 1 StPO dem freigesprochenen Angeklagten die Verteidigerkosten erstatten müsse. Dabei verkenne man nicht, dass das grundsätzliche Gebührenbestimmungsrecht eines Anwalts nicht dadurch ausgehöhlt werden dürfe, dass eine Gebührenbemessung schon dann als unbillig korrigiert werde, wenn sie lediglich "gut bemessen" ist (LG Zweibrücken JurBüro 2008, 311 = Rpfleger 2008, 390; Gerold/Schmidt/Mayer, RVG, 25. Aufl., 2021, § 14 Rn 5). Denn jede Ermessenausübung bewege sich innerhalb eines durch die Umstände bestimmten Rahmens. Eine Ermessensausübung sei auch dann noch billig, wenn sie an den oberen Rand des durch die Umstände bestimmten Rahmens gehe (Gerold/Schmidt/Mayer, a.a.O., § 14 Rn 12). Erst wenn sie diesen oberen Rand überschreite, sei sie unbillig, und damit der Weg für das Gericht frei, das anwaltliche Ermessen durch eigenes Ermessen zu ersetzen (Gerold/Schmidt/Mayer, a.a.O.).
2. Ansatz der Mittelgebühr unbillig
Diese engen Voraussetzungen haben hier nach Auffassung des AG allerdings vorgelegen. Der Verteidiger des Freigesprochenen habe hier die sog. "Mittelgebühr" angesetzt. In "Normalfällen" – d.h. wenn sämtliche in § 14 Abs. 1 S. 1 StPO ausdrücklich genannten Umstände von durchschnittlicher Art sind – entspreche die Bestimmung der Mittelgebühr billigem Ermessen (BeckOK RVG/v. Seltmann, 55. Edition, Stand: 1.9.2021, § 14 Rn 21). Das dürfe aber nicht dazu führen, dass der Rechtsanwalt ohne Abwägung der einzelnen Bemessungskriterien generell die Mittelgebühr abrechne (v. Seltmann, a.a.O.). Vielmehr sei die Mittelgebühr lediglich Ausgangspunkt der Ermessensausübung. Soweit eines der Kriterien des § 14 Abs. 1 S. 1 RVG von dem Durchschnitt abweiche, sei dies Anlass für den Rechtsanwalt, von der Mittelgebühr nach oben oder nach unten abzuweichen (v. Seltmann, a.a.O.). So liege es hier.
Namentlich Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit seien hier maßgeblich nach unten vom Durchschnitt abgewichen (vgl. zu diesen Kriterien im Einzelnen: v. Seltmann, a.a.O., § 14 Rn 28 ff., 34 ff.). Der Aktenumfang habe bis zum Hauptverhandlungsprotokoll 62 Blatt sowie 43 Blatt im Zeitpunkt erstmaliger Akteneinsicht betragen. Ausgangspunkt des Verfahrens sei ein Vorfall in einem Kiosk gewesen. Neben der Einlassung des (ehemaligen) Beschuldigten habe sich das Beweisprogramm im Wesentlichen in zwei Zeugen erschöpft. Etwas anderes folge auch nicht aus dem Umstand, dass der "Geschädigte zum Beschuldigten" wurde und es zwei "sich diametral gegenüberstehende Ermittlungsverfahren" gegeben habe. Denn sowohl in dem hiesigen Verfahren als auch in dem anderen Verfahren sei es im Kern um den gleichen Lebenssachverhalt gegangen; zumal der Umfang der Beiakte – den insoweit geltend gemachten Kopierkosten nach zu urteilen – sogar noch geringer gewesen, als derjenige der hiesigen Akte. Auf der anderen Seite sei kein anderes relevantes Bemessungskriterium nach oben hin von der Norm abgewichen, sodass auch insoweit keine "Kompensation" habe erfolgen können, die eine Festsetzung der Mittelgebühr noch hätte rechtfertigen können (zu dieser Möglichkeit Gerold/Schmidt/Mayer, a.a.O., § 14 Rn 11 m.w.N.). Dabei...