RVG § 15a, 45 RVG VV Nrn. 2300, 3100, Vorbem. 3 Abs. 4
Leitsatz
Wegen der Regelung des § 15a Abs. 1 RVG wirkt sich die in Vorbem. 3 Abs. 4 VV vorgesehene hälftige Anrechnung der Geschäftsgebühr nur dann auf die Festsetzung der gem. § 45 Abs. 1 RVG aus der Landeskasse zu zahlende Verfahrensgebühr aus, wenn auf die Geschäftsgebühr ein Betrag gezahlt wurde, der so hoch ist, dass die Festsetzung der vollen Verfahrensgebühr gegen die Landeskasse dazu führen würde, dass der Rechtsanwalt wegen des Anfalls von Geschäfts- und Verfahrensgebühr mehr erhielte als die um die Hälfte der Geschäftsgebühr verminderte Summe von Geschäfts- und Verfahrensgebühr.
OLG Frankfurt, Beschl. v. 21.5.2013 – 18 W 68/13
1 Sachverhalt
Nachdem die Antragstellerin vorgerichtlich für den Beklagten tätig geworden und für diese Tätigkeit gem. Nr. 2300 VV eine 1,3-Geschäftsgebühr aus einem Streitwert von 17.590,37 EUR in Höhe von 787,80 EUR berechnet. Darauf hat die Beklagte lediglich 100,00 EUR gezahlt.
Anschließend führten die Parteien vor dem LG einen Rechtsstreit über denselben Streitgegenstand. In diesem bewilligte das LG dem Beklagten Prozesskostenhilfe und ordnete ihm die Antragstellerin bei.
Nach Abschluss des Verfahrens beantragte die Antragstellerin, ihr für ihre Tätigkeit in erster Instanz eine Vergütung in Höhe von insgesamt 833,00 EUR festzusetzen. Auf diesen Antrag setzte das LG einen Betrag von nur 412,22 EUR fest. Die Antragstellerin legte dagegen Erinnerung ein und beanstandete, dass das LG auf die erstinstanzliche angefallene Verfahrensgebühr die wegen ihrer vorgerichtlichen Tätigkeit entstandene Geschäftsgebühr hälftig, d.h. in Höhe von 393,90 EUR, mit der Folge angerechnet hatte, dass wegen der Verfahrensgebühr keinen Betrag mehr festzusetzen war. Das LG wies die Erinnerung zurück.
Der daraufhin eingelegten sofortigen Beschwerde hat das LG nicht abgeholfen. Das OLG hat ihr nach Übertragung auf den Senat stattgegeben.
2 Aus den Gründen
Zwar ist das LG bei der Zurückweisung der Erinnerung der bislang ständigen Rspr. des erkennenden Senats gefolgt. Der Senat hält indes an dieser nicht mehr fest (siehe dazu unten unter 2. b) aa)).
a) Die Erinnerung war zulässig, § 56 Abs. 1 S. 1 RVG.
b) Die Erinnerung war auch begründet.
Die Antragstellerin kann als dem Beklagten gem. § 121 ZPO beigeordnete Rechtsanwältin für ihre Tätigkeit in der ersten Instanz aus § 45 Abs. 1 RVG eine Vergütung in Höhe von insgesamt 833,00 EUR von der Staatskasse beanspruchen, sodass der Beschluss des LG entsprechend abzuändern ist.
aa) Gem. Vorbem. 3 Abs. 2 VV und Nr. 3100 VV steht der Antragstellerin für das Betreiben des Geschäfts der Vertretung des Beklagten im Rechtsstreit erster Instanz eine 1,3-Verfahrensgebühr aus dem Streitwert von 17.590,37 EUR zu, die 353,60 EUR beträgt, da sich die Höhe der dem beigeordneten Rechtsanwalt von der Staatskasse zu zahlenden Vergütung nach § 49 RVG bestimmt.
Diese Gebühr ist zugunsten der Antragstellerin in voller Höhe gegen die Staatskasse festzusetzen.
Zwar regelt Vorbem. 3 Abs. 4 VV, dass eine vorgerichtlich angefallene Geschäftsgebühr hälftig auf die Verfahrensgebühr des gerichtlichen Verfahrens angerechnet wird, wenn und soweit die außergerichtliche und die gerichtliche Tätigkeit des Rechtsanwalts – wie hier – denselben Gegenstand betreffen. Auf diese Anrechnung kann sich die Staatskasse auch trotz der Regelung des § 15a Abs. 2 RVG berufen, weil sie nicht "Dritte" im Sinne dieser Norm ist (vgl. Beschluss des erkennenden Senats v. 12.2.2010 – 18 W 3/10).
Jedoch sieht § 15a Abs. 1 RVG vor, dass der Rechtsanwalt in Fällen, in denen eine Gebühr auf eine andere Gebühr anzurechnen ist, beide Gebühren fordern kann, jedoch nicht mehr, als den um den Anrechnungsbetrag verminderten Gesamtbetrag beider Gebühren. Der Rechtsanwalt hat deshalb die Wahl, welche Gebühr er fordert, so dass er in Fällen wie dem vorliegendem, in dem die Gebühren von unterschiedlichen Personen geschuldet werden (der Beklagte schuldet die Geschäftsgebühr, die Staatskasse gem. § 45 Abs. 1 RVG die Verfahrensgebühr) auch wählen kann, welchen Schuldner er in Anspruch nimmt. Beantragt er – wie vorliegend die Antragstellerin – die Festsetzung einer vollen Verfahrensgebühr gegen die Staatskasse, macht er von diesem Wahlrecht in zulässiger Weise Gebrauch. Eine Einschränkung des aus § 15a Abs. 1 RVG folgenden Wahlrechts des Rechtsanwalts dahingehend, dass er von diesem nicht zu Lasten der Staatskasse Gebrauch machen kann, ist weder dem Wortlaut dieser Regelung noch den Gesetzgebungsmaterialien (vgl. BT-Drucksache 16/12717 "Zu Nummer 3 – neu") zu entnehmen.
Der erkennende Senat gibt deshalb seine – seit dem oben zitierten Beschl. v. 12.2.2010 – 18 W 3/10 ständige – Rspr. (vgl. auch Beschl. v. 12.12.2011 – 18 W 214/11, RVGreport, 2012, 104), der zufolge der Anfall der Geschäftsgebühr wegen der in Vorbem. 3 Abs. 4 VV normierten Anrechnung stets zu einer Reduzierung der von der Staatskasse zu zahlenden Verfahrensgebühr führt, auf und schließt sich der Auffassung des 1. Senats für Familiensachen des OLG Frankfurt am Mai...