Leitsatz
- Die Ausnahmeregelung des § 15 Abs. 5 S. 2 RVG, wonach rechtsanwaltliche Tätigkeit gebührenrechtlich als neue Angelegenheit anzusehen ist, wenn der frühere Auftrag seit mehr als zwei Kalenderjahren erledigt ist, trägt dem Umstand Rechnung, dass in solchen Fällen nach Erfahrungswerten eine Neueinarbeitung des Rechtsanwaltes in die Angelegenheit geboten ist.
- Dies gebietet es, unter den Begriff der (gebührenrechtlichen) Erledigung in § 15 Abs. 5 S. 2 RVG in Anlehnung an die Fälligkeitsregelung in § 8 Abs. 1 S. 2 RVG, die ausdrücklich zwischen Erledigung und Beendigung eines Verfahrens unterscheidet, auch einen Zeitpunkt von drei Monaten nach der förmlichen Anordnung des Ruhens eines gerichtlichen Verfahrens anzunehmen.
- Wird ein ruhendes Verfahren frühestens nach Ablauf des zweiten auf das Jahr der Anordnung folgenden Kalenderjahres wieder angerufen und ist der Rechtsanwalt zwischenzeitlich auch nicht außergerichtlich in der Angelegenheit tätig gewesen, liegt rechtsanwaltsgebührenrechtlich eine neue Angelegenheit i.S.d. § 15 Abs. 5 S. 2 RVG vor.
VG Dresden, Beschl. v. 30.6.2016 – 2 O 22/16
1 Aus den Gründen
Die statthafte, rechtzeitig eingelegte und auch sonst zulässige Erinnerung (§ 165 i.V.m. § 151 VwGO) hat auch in der Sache Erfolg.
Entgegen der Rechtsauffassung des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des VG ist eine weitere 1,3 Verfahrensgebühr nach Nr. 3100 VV in Ansatz zu bringen, weil die Voraussetzungen des § 15 Abs. 5 S. 2 RVG vorliegen.
Nach § 15 Abs. 5 S. 1 RVG erhält ein Rechtsanwalt, nachdem er in einer Angelegenheit tätig geworden ist und beauftragt wird, in derselben Angelegenheit weiter tätig zu werden, grundsätzlich nicht mehr an Gebühren, als er erhalten würde, wenn er von vornherein hiermit beauftragt worden wäre. Der Rechtsanwalt kann demnach im Grundsatz Gebühren in derselben Angelegenheit nur einmal verlangen.
Demgegenüber enthält § 15 Abs. 5 S. 2 RVG als reine Billigkeitsregelung eine Ausnahmeregelung, die diesen Grundsatz durchbricht, wenn der frühere Auftrag seit mehr als zwei Kalenderjahren erledigt ist. Diese Bestimmung setzt demnach zunächst voraus, dass der frühere Auftrag erledigt ist und dem Rechtsanwalt nach der Erledigung ein weiterer Auftrag erteilt worden ist (vgl. Bayerischer VGH, Beschl. v. 8.12.2014 – 15 M 14.2529, juris [= AGS 2015, 62]). Dem weiteren Auftrag steht jedes anders geartete Ansinnen, eine Angelegenheit wieder anzugehen, gleich.
Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Es trifft zwar zu, dass die Anordnung des Ruhens des Verfahrens und die statistische Erledigung das zunächst unter dem Aktenzeichen 2 K 778/09 geführte gerichtliche Verfahren lediglich (vorübergehend) unterbrochen, nicht aber endgültig abgeschlossen haben. Im Hinblick auf die hier streitigen Fragen kommt es jedoch nicht auf den endgültigen Abschluss des Klageverfahrens an. Maßgeblich ist im Rahmen der Prüfung des Vorliegens einer Erledigung i.S.d. § 15 Abs. 5 S. 2 RVG allein die Erledigung des Verfahrens für den bevollmächtigten Rechtsanwalt. "Erledigt" ist daher bezogen auf das Rechtsanwaltsvergütungsrecht zu verstehen. Das RVG verwendet den Begriff der Erledigung nicht nur in § 15 Abs. 5, sondern ebenfalls in § 15 Abs. 1, Abs. 4 und § 8 Abs. 1 RVG. Dort wird die Erledigung jedoch ausschließlich auf den Zeitpunkt bezogen, in dem die Rechtsanwaltsgebühren fällig werden. Auf den formalen, endgültigen Abschluss eines Klageverfahrens kommt es insoweit nicht an. Denn hierfür verwendet § 8 Abs. 1 RVG ausschließlich den Begriff der "Beendigung". Damit hat der Gesetzgeber, was der Kostenbeamte der Geschäftsstelle verkannt hat, deutlich gemacht, dass er beiden Begriffen verschiedene prozessuale Sachverhalte zugrunde legt. Es ist darüber hinaus kein Grund ersichtlich, warum der Gesetzgeber diese Unterscheidung nur im Hinblick auf die Fälligkeit der Rechtsanwaltsgebühren vorgenommen haben soll, insbesondere, da er beide prozessuale Sachverhalte gleich behandelt. Eine "Erledigung" i.S.v. § 15 Abs. 5 S. 2 RVG liegt deswegen bereits vor, wenn ein gerichtliches Verfahren länger als drei Monate förmlich ruht und somit rechtsanwaltsgebührenrechtlich die Fälligkeit (§ 8 Abs. 1 S. 2 a.E. RVG) eingetreten ist (vgl. auch OLG Stuttgart, Beschl. v. 13.5.2002 – 8 W 640/01, juris m.w.N. zu § 13 Abs. 5 S. 2 BRAGO [= AGS 2003, 19]).
Dieses Verständnis der (gebührenrechtlichen) Erledigung wird zudem durch die weitere Voraussetzung des § 15 Abs. 5 S. 2 RVG gestützt. Danach muss diese Erledigung seit mehr als zwei Kalenderjahren vorliegen. Der Grund für diese Ausnahmeregelung ist allein die Erfahrung, dass nach einem Ablauf von zwei Kalenderjahren eine vollständige Wiedereinarbeitung eines Rechtsanwaltes in ein Mandat erfolgen muss (Mayer, in: Gerold/Schmidt, RVG, 21. Aufl., RVG § 15 Rn 125). Über die bereits in § 13 Abs. 5 S. 2 BRAGO enthaltene vorhergehende Regelung hinaus sollten nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers gem. § 15 Abs. 5 S. 2 RVG auch sonst vorgesehene Anrechnungen entfallen, weil sich auch in diesen Fällen ein Rechtsanwalt wege...