Nach Art. 20 unseres Grundgesetzes ist die Rechtsprechung an Recht und Gesetz gebunden. Dass es mit dem Ersteren oft nicht weit her ist, müssen Mandanten in der Praxis häufig spüren. Dass aber auch Gesetze nichts mehr gelten, ist im Kostenrecht eine neue Erfahrung.
Dazu drei aktuelle Beispiele:
In einem Verfahren vor dem ArbG Siegburg (5 Ca 2612/11) meldete der seiner Partei beigeordnete Prozessbevollmächtigte nach Abschluss eines schriftlichen Vergleichs, dessen Zustandekommen das Gericht nach § 278 Abs. 6 ZPO gerichtlich festgestellt hatte, gegenüber der Landeskasse u.a. auch eine Terminsgebühr an. Daraufhin erhielt er folgende Verfügung:
"Bezugnehmend auf Ihren Kostenfestsetzungsantrag wird Ihnen Folgendes mitgeteilt: Da der gerichtliche Termin vom … aufgehoben wurde und sich aus der Akte nicht ergibt, inwieweit zwischen Ihnen und der Gegenseite ein außergerichtlicher Termin stattgefunden hat, ist nicht ersichtlich, wie die angemeldete Terminsgebühr gem. Ziff. 3104 VV RVG entstehen konnte. Es wird um kurze schriftliche Stellungnahme und gegebenenfalls um Antragsrücknahme gebeten, wenn der Vergleich im schriftlichen Verfahren herbeigeführt wurde."
Nach fast acht Jahren RVG muss man eigentlich davon ausgehen können, dass auch beim letzten Urkundsbeamten der Geschäftsstelle die neuen gesetzlichen Vorschriften angekommen sind und die aus dem Gesetz abzulesende Erkenntnis, dass nach Anm. Abs. 1 Nr. 1 zu Nr. 3104 VV eine Terminsgebühr auch bei Abschluss eines schriftlichen Vergleichs entsteht. Angesichts dieser Offenkundigkeit mag man sich fast schon die Frage stellen, ob hier wirklich noch von einem Irrtum ausgegangen werden kann oder ob der antragstellende Anwalt nicht bewusst in die Irre geführt werden sollte, um Ausgaben für die Landeskasse zu vermeiden.
Wer meint, dass so etwas nur bei den unteren Instanzen und den Justizbediensteten vorkommt, der irrt. So hatte sich das OLG Naumburg (AGS 2012, 122) mit der Frage zu befassen, ob Mahnverfahren und streitiges Verfahren zwei verschiedene Angelegenheiten sind, also ob die Postentgeltpauschale der Nr. 7002 VV einmal oder zweimal anfällt. Abgesehen davon, dass der BGH schon zu BRAGO-Zeiten diese Streitfrage dahingehend entschieden hat, dass zwei verschiedene Angelegenheiten vorliegen, hat der Gesetzgeber mit dem RVG darauf reagiert und ausdrücklich in § 17 Nr. 2 RVG angeordnet, dass "das Mahnverfahren und das streitige Verfahren" verschiedene Angelegenheiten sind. Auf die Idee, ins Gesetz zu schauen, ist das OLG Naumburg offenbar nicht gekommen, sondern hat sich auf die Kommentierung von Hartmann, KostG, zu § 15 RVG Rn 34 berufen, wonach es sich um eine Angelegenheit handele. Abgesehen davon, dass es fahrlässig ist, sich auf die Kommentierung von Hartmann, KostG, zu verlassen, die an vielen Stellen nicht auf dem aktuellen Stand ist, hätte ein Blick ins Gesetz die Sache klargestellt. Es hätte im Übrigen schon genügt, die richtige Kommentarstelle im Hartmann zu finden. In § 17 Rn 4 RVG kommentiert er nämlich genau gegenteilig zu § 15 RVG.
Den vorläufigen Höhepunkt bildet die Entscheidung des OLG Nürnberg (Beschl. v. 31.1.2011 – 11 WF 1736/10). Dort ging es um Fragen des Gerichtskostenansatzes. Das OLG Nürnberg hatte in verfassungswidriger Weise unter Verletzung rechtlichen Gehörs zu Lasten des Beschwerdeführers entschieden. Dieser hatte daraufhin Gehörsrüge erhoben, die das OLG mit der lapidaren Begründung abgewiesen hat, nach dem GKG gäbe es keine Gehörsrüge.
Schon diese Aussage hätte das OLG verwundern müssen, hatte sich der Gesetzgeber doch seinerzeit akribisch die Mühe gemacht, in allen Verfahrensordnungen die Gehörsrüge einzuführen. Dabei hat er auch das GKG nicht ausgenommen und in § 69a GKG ausdrücklich die Gehörsrüge für das Kostenansatzverfahren geregelt.
Ist es schon bedauerlich genug, dass ein Obergericht in verfassungswidriger Weise das Recht auf rechtliches Gehör verletzt, kann kaum noch nachvollzogen werden, dass ihm die verfassungsrechtlich gebotene Gehörsrüge nicht bekannt ist und sich das Gericht noch nicht einmal Mühe macht, im Gesetz nachzuschauen oder wenigstens zu googeln. Lapidar wird behauptet, es gäbe keine Gehörsrüge – oder wollte das Gericht nur "kurzen Prozess" machen, um die eigenen Verfahrensfehler nicht aufdecken zu müssen? Zum Glück ist die Entscheidung des OLG Nürnberg vom Bayerischen VerfGH (Beschl. v. 9.2.2012 – Vf. 31-VI-11) dann auch mit eindeutigen Worten aufgehoben worden.
Wer in Kostensachen gut beraten ist, der zitiert demnächst sämtliche Gesetze, auf die er sich beruft. Am besten fügt er noch Ausdrucke der Gesetzestexte als Schriftsatzanlage bei, markiert die entscheidenden Passagen und betet, dass das Gericht zumindest die Anlagen liest.
Autor: Lotte Thiel
Lotte Thiel/Norbert Schneider