Der Beschluss der Strafkammer beruht hingegen auf einer Verletzung des Gesetzes, denn sie hat § 48 Abs. 5 RVG nicht richtig angewendet (§ 33 Abs. 6 S. 2 RVG i.V.m. § 546 ZPO).
Entgegen der Rechtsauffassung der Strafkammer ist für den Erstattungsanspruch der Pflichtverteidigerin in Bezug auf das Verbundverfahren 2060 Js 21485/11 nicht § 48 Abs. 5 S. 1 RVG, sondern S. 3 dieser Vorschrift maßgebend. § 48 Abs. 5 S. 1 RVG bestimmt, dass der im ersten Rechtszug beigeordnete Pflichtverteidiger die Vergütung auch für seine Tätigkeit (als Wahlverteidiger) vor dem Zeitpunkt seiner Bestellung erhält. Diese Wirkung tritt für hinzuverbundene Verfahren gem. § 48 Abs. 5 S. 3 RVG aber nur dann ein, wenn das Gericht sie ausdrücklich auf das Verbundverfahren erstreckt (OLG Oldenburg NStZ-RR 2011, 261; OLG Celle – 1 Ws 575/07 v. 2.1.2007; Mathias, in: Bischof/Jungbauer/Bräuer/Curkovic/Mathias/Uher, RVG, 4. Aufl. 2011, § 48 Rn 39; Schnapp, in: Schneider/Wolf, RVG, 3. Aufl. 2006, § 48 Rn 65); dies ist vorliegend nicht erfolgt.
Der Senat folgt damit nicht der in Rspr. (KG StRR 2012, 78 f.; NStZ-RR 2009, 360; OLG Jena RPfleger 2009, 171 f.; OLG Hamm NStZ-RR 2005, 285 f. [= AGS 2005, 437]; OLG Rostock StRR 2009, 279 f.; LG Bonn – 2 Qs 22/06 v. 30.8.2006; LG Aurich StRR 2011, 244) und Lit. (Hartmann, KostG, 4. Aufl. 2012, § 48 Rn 101; Hartung/Schons/Enders, RVG, 1. Aufl. 2011, § 48 Rn 70, 74; Burhoff, in: Gerold/Schmidt, RVG, 19. Aufl. 2010, § 48 Rn 149) vertretenen Auffassung, § 48 Abs. 5 S. 3 RVG gelte nur für diejenigen Fälle, in denen der Verteidiger in dem führenden Verfahren bereits vor der Verbindung bestellt, in dem hinzuverbundenen Verfahren hingegen ausschließlich als Wahlverteidiger tätig gewesen sei. Diese auch von der Strafkammer vertretene Auffassung findet im Gesetz keinen Anhalt.
Nach seinem Wortlaut gilt § 48 Abs. 5 S. 3 RVG für alle Fälle der Verfahrensverbindung, unabhängig davon, ob die Beiordnung als Pflichtverteidiger vor oder nach der Verbindung erfolgt. Hierfür spricht auch die Gesetzesbegründung, nach der durch S. 3 klargestellt werden sollte, dass sich die Rückwirkung von § 48 Abs. 5 S. 1 RVG nicht automatisch auf verbundene Verfahren erstreckt, in denen bisher kein Pflichtverteidiger bestellt war (BT-Drucks 15/1971, S. 201). Der Gesetzgeber ging hierbei ersichtlich davon aus, die Rückwirkung nur auf solche Verbundverfahren zu erstrecken, in denen auch bei isolierter Betrachtung eine Pflichtverteidigerbestellung hätte erfolgen müssen. Für Verbundverfahren, in denen dies – wie hier – nicht der Fall ist, gibt es keinen sachlichen Grund, den Gebührenanspruch des als Wahlverteidiger tätig gewordenen Rechtsanwalts gegen seinen Mandanten durch einen Erstattungsanspruch gegen die Staatskasse zu ersetzen (vgl. OLG Oldenburg a.a.O.).
Eine solche Klarstellung durch den Gesetzgeber war auch geboten, weil unter der Geltung von § 97 Abs. 3 BRAGO umstritten war, ob im Fall der Verbindung von Verfahren der als Pflichtverteidiger beigeordnete Rechtsanwalt die gesetzliche Vergütung auch für die hinzuverbundenen Verfahren erhalten sollte. Bereits für diese Rechtslage aber hat der Senat entschieden, dass bei Verbindung mehrerer Strafverfahren dem Pflichtverteidiger mehrere Vorverfahrensgebühren nach §§ 97 Abs. 3, 84 Abs. 1 BRAGO nur dann zustehen, wenn er in diesen Verfahren bereits vor deren Verbindung zum Pflichtverteidiger bestellt war (OLG Koblenz NStZ-RR 2001, 384).
c) Da es an einer Erstreckung der Wirkung von § 48 Abs. 5 S. 1 RVG auf das Verbundverfahren 2060 Js 21485/11 fehlt, kann die Pflichtverteidigerin die Verfahrens- und Grundgebühr für dieses Verfahren nicht aus der Staatskasse ersetzt verlangen; insoweit verbleibt ihr der Gebührenanspruch gegen den Verurteilten selbst.
Die ihr aus der Staatskasse zu ersetzende Vergütung für die erste Instanz berechnet sich daher wie folgt:
Grundgebühr (2060 Js 55729/10), Nr. 4100 VV |
132,00 EUR |
Verfahrensgebühr (2060 Js 55729/10), Nr. 4106 VV |
112,00 EUR |
Terminsgebühr, Nr. 4108 VV |
184,00 EUR |
Zusatzgebühr, Nr. 4110 VV |
92,00 EUR |
Reisekosten, Nr. 7003 VV |
19,20 EUR |
Tage- und Abwesenheitsgeld, Nr. 7005 Nr. 2 VV |
35,00 EUR |
Pauschale, Nr. 7002 VV |
20,00 EUR |
Dokumentenpauschale (710 Seiten), Nr. 7000 Nr. 1a VV |
124,00 EUR |
Zwischensumme |
718,20 EUR |
|
zzgl. 19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV |
136,46 EUR |
Erstattungsanspruch |
854,66 EUR |
Der Erstattungsanspruch wurde somit durch die Urkundsbeamtin beim AG zutreffend festgesetzt.