Mit der Einführung des RVG hat sich der Gesetzgeber bewusst dafür entschieden, die frühere Beweisgebühr (§ 31 Abs. 1 Nr. 3 BRAGO) abzuschaffen. Die Frage, unter welchen Umständen eine Beweisgebühr zu erheben war und welcher Gegenstandswert dafür anzusetzen war, war Gegenstand zahlreicher Streitigkeiten in Honorarprozessen und Kostenfestsetzungsverfahren. Diesen Streitpunkt wollte der Gesetzgeber bewusst beseitigen.
Im Gegenzug hat der Gesetzgeber dafür die Betriebsgebühr (die damalige 10/10-Prozessgebühr, § 31 Abs. 1 Nr. 1 BRAGO) auf 1,3 (jetzt Verfahrensgebühr nach Nr. 3100 VV) angehoben und die Gebühr für die Wahrnehmung eines Termins (damalige 10/10-Verhandlungs- oder Erörterungsgebühr – § 31 Abs. 1 Nr. 2 und 4 BRAGO) auf 1,2 (jetzige Terminsgebühr nach Nr. 3104 VV) angehoben. Dies hatte zu dem Ergebnis geführt, dass ein Anwalt in Verfahren ohne Beweisaufnahme nunmehr um 0,5 besser stand, als zuvor und in Verfahren mit Beweisaufnahme um 0,5-Gebühren schlechter. Je nachdem, ob man viele Mandate mit Beweisaufnahmen hat oder nicht, wirkt sich dies für den einen Anwalt günstiger und für den anderen Anwalt ungünstiger aus. Dies ist aber nun einmal die Entscheidung des Gesetzgebers gewesen, die zu akzeptieren ist und nicht durch eine Auslegung des Gesetzes konterkariert werden kann.
Da der Gesetzgeber im Nachhinein erkannt hat, dass es "Härtefälle" gibt, hat er sich entschlossen, im Rahmen des 2. Kostenrechtsmodernisierungsgesetzes mit der Nr. 1010 VV einen "kleine Beweisgebühr" durch die Hintertür wieder einzuführen. Systemwidrig ist diese Gebühr in Teil 1 VV aufgenommen worden, obwohl sie nur für die Gebühren nach Teil 3 VV gilt und eigentlich dort hätte verankert werden müssen.
Diese Vorschrift hat in der Praxis allerdings so gut wie keine Bedeutung. Voraussetzung für diese Zusatzgebühr ist nämlich,
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dass eine umfangreiche Beweisaufnahme vorliegt, |
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dass es zu mindestens drei gerichtlichen Terminen gekommen ist, |
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in denen Zeugen oder Sachverständige vernommen worden sind. |
Es genügt nicht, dass eines dieser Kriterien erfüllt ist. Es müssen alle Kriterien erfüllt sein.
Daher reicht also eine umfangreiche Beweisaufnahme alleine für sich genommen nicht aus, mögen auch zehn Sachverständigengutachten eingeholt worden seien.
Es muss auch zu gerichtlichen Terminen gekommen sein. Daher löst die Teilnahme an Sachverständigenterminen die Zusatzgebühr nicht aus. Wie das OLG zu Recht ausführt, wird auf "gerichtliche Termine" abgestellt. Was der Gesetzgeber unter gerichtlichen Terminen versteht, ergibt sich aus Vorbem. 3 Abs. 3 VV. Jedenfalls gehören nicht die Termine zur Teilnahme an einem Sachverständigentermin hierzu, da diese vom Gesetzgeber in Vorbem. 3 Abs. 3 S. 3 Nr. 1 VV ausdrücklich als außergerichtliche Termine bezeichnet sind. Die gegenteilige Auffassung des LG Ravensburg ist daher mit dem Gesetz nicht zu vereinbaren.
Es genügt auch nicht die bloße Ladung eines Sachverständigen oder Zeugen oder dessen Anwesenheit im Termin. Es muss tatsächlich auch zur Vernehmung gekommen sein.
Die einzige Voraussetzung, die im zugrunde liegenden Fall gegeben war, war eine besonders umfangreiche Beweisaufnahme. Dieses Kriterium alleine reicht aber nicht aus, um den Gebührentatbestand auszulösen.
Sicherlich ist – je nach Streitwert – ein Verfahren mit einer umfangreichen Beweisaufnahme nicht kostendeckend zu bearbeiten. Für diesen Fall sieht § 3a RVG vor, dass der Anwalt mit seinem Mandanten eine Gebührenvereinbarung treffen kann.
Rechtsanwalt Norbert Schneider
AGS, S. 374 - 376