War der Anwalt vor Verbindung mehrerer Strafverfahren noch in keinem Verfahren als Pflichtverteidiger bestellt, sondern wird er erst nach der Verbindung bestellt, erstreckt sich die Rückwirkung des § 48 Abs. 6 S. 1 RVG in jedem verbundenen Verfahren auch auf die jeweilige Tätigkeit im vorbereitenden Verfahren.[1] Nach a.A.[2] (wie hier das OLG Braunschweig) soll sich die Bestellung des Pflichtverteidigers nach Verbindung dagegen nur auf das führende Verfahren beziehen, nicht auch auf die zuvor hinzu verbundenen Verfahren. Auf diese soll sich die Bestellung nur auswirken, wenn eine Erstreckung nach § 48 Abs. 6 S. 3 RVG ausgesprochen worden ist.

 

Beispiel

Gegen den Mandanten wird wegen des Verdachts eines Betrugs (Az. 1/14) und wegen des Verdachts eines Diebstahls (Az. 2/14) zunächst getrennt ermittelt. Beide Taten werden angeklagt. Die Hauptverfahren werden eröffnet. Nachdem in beiden Verfahren bereits ein Hauptverhandlungstermin stattgefunden hat und die Hauptverhandlung jeweils ausgesetzt worden ist, werden beide Verfahren verbunden (führend ist das Verfahren 2/14). Es findet hiernach ein weiterer Hauptverhandlungstermin im verbundenen Verfahren statt, in dem das Urteil gesprochen wird.

Bis zur Verbindung entstehen die Gebühren getrennt, also jeweils eine Grundgebühr und eine Verfahrensgebühr im Ermittlungsverfahren sowie eine Verfahrensgebühr und eine Terminsgebühr im erstinstanzlichen gerichtlichen Verfahren. Nach der Verbindung entsteht eine weitere Terminsgebühr. Die Bestellung wirkt in beiden Verfahren nach § 48 Abs. 6 S. 1 RVG auf das jeweilige Ermittlungsverfahren zurück. Der Anwalt erhält also die gesamte Vergütung aus der Landeskasse.

I. Verfahren 1/14

a) Vorbereitendes Verfahren

 
1. Grundgebühr, Nr. 4100 VV 160,00 EUR
2. Verfahrensgebühr, Nr. 4104 VV 132,00 EUR
3. Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV 20,00 EUR
  Zwischensumme 312,00 EUR
4. 19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV 59,28 EUR
Gesamt 371,28 EUR

b) Erstinstanzliches gerichtliches Verfahren

 
1. Verfahrensgebühr, Nr. 4106 VV 132,00 EUR
2. Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV 20,00 EUR
3. Terminsgebühr, Nr. 4108 VV 220,00 EUR
  Zwischensumme 372,00 EUR
3. 19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV 70,68 EUR
Gesamt 442,68 EUR

II. Verfahren 2/14

a) Vorbereitendes Verfahren

 
1. Grundgebühr, Nr. 4100 VV 160,00 EUR
2. Verfahrensgebühr, Nr. 4104 VV 132,00 EUR
3. Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV 20,00 EUR
  Zwischensumme 312,00 EUR
4. 19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV 59,28 EUR
Gesamt 371,28 EUR

b) Erstinstanzliches gerichtliches Verfahren

 
1. Verfahrensgebühr, Nr. 4106 VV 132,00 EUR
2. Terminsgebühr, (1. Hauptverhandlungstermin) Nr. 4108 VV 220,00 EUR
3. Terminsgebühr, (2. Hauptverhandlungstermin) Nr. 4108 VV 220,00 EUR
4. Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV 20,00 EUR
  Zwischensumme 592,00 EUR
5. 19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV 112,48 EUR
Gesamt 704,48 EUR

Nach der Gegenauffassung[3] (wie hier) würde dem Verteidiger aus der Landeskasse nur die Vergütung im Verfahren 2/14 zustehen, nicht auch im Verfahren 1/14. Im Verfahren 2/14 würde sich dann aber die Rückwirkung auch auf das vorbereitende Verfahren erstrecken, einschließlich Grundgebühr.

Norbert Schneider

AGS, S. 402 - 405

[1] KG NStZ-RR 2009, 360 = JurBüro 2009, 531 = RVGreport 2010, 64; Rpfleger 2009, 171 = JurBüro 2009, 138 = NStZ-RR 2009, 160 = StRR 2009, 43; OLG Jena, Beschl. v. 17.3.2008 – 1 AR (S) 3/08; LG Stuttgart RVGprof. 2007, 177; LG Dortmund StraFo 2006, 258; OLG Bremen RVGprof. 2012, 186 = StRR 2012, 436 = RVGreport 2013, 14.
[2] OLG Koblenz AGS 2012, 390 = StraFo 2012, 290 = NStZ-RR 2012, 295 = JurBüro 2012, 522 = StRR 2012, 319 = RVGprof. 2013, 42 = RVGreport 2013, 227; OLG Rostock StRR 2009, 279 = RVGreport 2009, 304 = RVGprof. 2009, 155; OLG Oldenburg NStZ-RR 2011, 261 = RVGprof. 2011, 104 = RVGreport 2011, 220; LG Aurich RVGreport 2011, 221 = StRR 2011, 244 = AG kompakt 2011, 105.
[3] OLG Koblenz AGS 2012, 390 = StraFo 2012, 290 = NStZ-RR 2012, 295 = JurBüro 2012, 522 = StRR 2012, 319 = RVGprof. 2013, 42 = RVGreport 2013, 227; OLG Rostock StRR 2009, 279 = RVGreport 2009, 304 = RVGprof. 2009, 155; OLG Oldenburg NStZ-RR 2011, 261 = RVGprof. 2011, 104 = RVGreport 2011, 220; LG Aurich RVGreport 2011, 221 = StRR 2011, 244 = AG kompakt 2011, 105.

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