SGG § 178 S. 1 RVG §§ 45 ff., 56
Leitsatz
- Gegen diese Beschlüsse über Erinnerungen, welche gegen Kostenfestsetzungen der Urkundsbeamten der Geschäftsstelle im Verfahren nach §§ 45 ff. RVG erhoben worden sind, ist das Rechtsmittel der Beschwerde statthaft; § 178 S. 1 SGG tritt insoweit gegenüber § 56 Abs. 2 S. 1 i.V.m. § 33 Abs. 3 S. 1 RVG zurück.
- Das verfassungsrechtliche Vertrauensschutzprinzip gebietet, dass das Erinnerungsrecht der Staatskasse trotz des Fehlens einer ausdrücklichen Befristung nicht "bis in alle Ewigkeit" besteht. Dem kann durch das Rechtsinstitut der Verwirkung Rechnung getragen werden.
- Spätestens ein Jahr nach dem Wirksamwerden der Kostenfestsetzungsentscheidung ist das Erinnerungsrecht der Staatskasse verwirkt, sofern nicht besonders missbilligenswerte Umstände in der Sphäre des Anwalts vorliegen. Offen bleibt, ob dies in gleicher Weise für das Erinnerungsrecht des Anwalts gilt.
Bayerisches LSG, Beschl. v. 4.10.2012 – L 15 SF 131/11 B E
1 Sachverhalt
Der Beschwerdegegner war in einem schwerbehindertenrechtlichen Klageverfahren dem damaligen Kläger im Wege der Prozesskostenhilfe beigeordnet worden. Die Klageparteien hatten einen außergerichtlichen Vergleich geschlossen, was zur Erledigung des Klageverfahrens führte. Der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle beim SG setzte am 6.10.2009 die Vergütung nach §§ 45 ff. RVG fest und erkannte dabei auch eine Terminsgebühr zu. Dagegen hat der Bezirksrevisor beim Bayerischen LSG am 12.1.2011 für die Staatskasse Erinnerung eingelegt; er hat sich gegen den Ansatz einer Terminsgebühr gewandt. Die Kostenrichterin beim SG hat die Erinnerung zurückgewiesen. Dies hat sie damit begründet, das Recht zur Erinnerung sei für die Staatskasse verwirkt, wobei sie die in § 20 Abs. 1 GKG genannte Frist entsprechend herangezogen und sich auf einen Beschluss des SG Berlin v. 1.11.2010 – S 127 SF 407/10 E bezogen hat. Eine Beschwerde zum Bayerischen LSG, so die Kostenrichterin, sei aufgrund von § 178 S. 1 SGG nicht statthaft.
Gleichwohl hat der Bezirksrevisor Beschwerde eingelegt. Er ist der Ansicht, das Rechtsmittel sei statthaft, weil § 178 S. 1 SGG gegenüber §§ 56 Abs. 2 S. 1 i.V.m. § 33 Abs. 3 S. 1 RVG zurücktrete. Die Staatskasse habe das Recht zur Erinnerung nicht verwirkt; der Bezirksrevisor hat insoweit auf eine Entscheidung des Bayerischen LSG v. 25.8.1995 – L 14 Ar 214/89.Ko Bezug genommen. Die Staatskasse habe im November 2010 erstmals von der überhöhten Auszahlung Kenntnis erlangt.
Die Beschwerde, der das SG nicht abgeholfen hat, hatte keinen Erfolg.
2 Aus den Gründen
1. Zur Zulässigkeit der Beschwerde
Die Beschwerde ist zulässig.
Entgegen der Ansicht des SG ist die Beschwerde statthaft. § 178 S. 1 SGG führt nicht dazu, dass es gegen den Beschluss der Kostenrichterin kein Rechtsmittel gibt. Diese Norm bestimmt, dass gegen eine Entscheidung des Urkundsbeamten das Gericht angerufen werden kann; dessen Entscheidung ist endgültig, ein Rechtsmittel also ausgeschlossen. Genau dieser Verfahrensablauf liegt hier vor: Zunächst hat der Urkundsbeamte unter dem Datum 6.10.2009 eine Kostenfestsetzung vorgenommen. Dagegen ist Erinnerung eingelegt worden, die zu einer Entscheidung der Kostenrichterin geführt hat. Gleichwohl greift der durch § 178 S. 1 SGG normierte Rechtsmittelausschluss nicht, weil demgegenüber § 56 RVG Vorrang genießt. Aus § 56 Abs. 2 S. 1 i.V.m. § 33 Abs. 3 S. 1 RVG geht hervor, dass die Beschwerde gegen die Entscheidung über die Erinnerung statthaft ist, wenn der Wert des Beschwerdegegenstands 200,00 EUR übersteigt; Beschwerdeausschlusstatbestände sieht das RVG ansonsten nicht vor.
Der Senat ist davon überzeugt, dass für § 178 S. 1 SGG neben § 56 RVG kein Anwendungsbereich bleibt. Denn die Regelungen des § 56 RVG, die dieser unter Rückgriff auf § 33 RVG zu Rechtsbehelfen bzw. Rechtsmitteln trifft, verkörpern Sonderrecht und sind vorrangig.
a) Das RVG in seiner Gesamtheit gestaltet die Rechtslage für einen sehr speziellen Ausschnitt aus dem rechtlich-sozialen Beziehungsgefüge des Lebens. Das tut es indes abschließend und situationsübergreifend. Das RVG misst sich die Funktion bei, die Vergütung für Rechtsanwälte umfassend und in allen denkbaren Facetten zu regeln. So enthält es ganz selbstverständlich auch Bestimmungen, die das Sozialrecht und die Sozialgerichtsbarkeit betreffen; dieser Bereich bleibt keineswegs von vornherein ausgespart. Da das RVG bestimmte, "horizontale" – gemeint sind fachgebietsübergreifende – Sachverhalte herausgreift und insoweit umfassende Regelungswirkung beansprucht, muss davon ausgegangen werden, dass auch die Geltungsanordnung, die § 56 Abs. 2 S. 1 i.V.m. § 33 Abs. 3 S. 1 RVG inhärent ist, sämtliche Fachbereiche umfasst.
b) Die §§ 45 ff. RVG im Besonderen verkörpern in der Sache spezielles Prozessrecht. Prozessrecht deshalb, weil es sich dabei um einen Teilsektor der Prozesskostenhilfe, nämlich um das Rechtsverhältnis des beigeordneten Rechtsanwalts zur Staatskasse, handelt. Die Prozessordnungen der Gerichtsbarkeiten klammern die Regelungsgegenstände der §§ 45 ff. RVG aus, ob...