Sachverhalt
Bei dem italienischen Verfahren ging es um die Auslegung von Art. 2 und Art. 22 der 6. EG-Richtlinie (jetzt Art. 2 und Art. 213 ff MwStSystRL). Die Klägerin wies in ihrer Mehrwertsteuererklärung für 1980 einen Vorsteuerüberhang aus. Im April 1982 reichte sie die Mehrwertsteuererklärung für 1981 ein. In ihrer Mehrwertsteuererklärung für 1982 machte sie einen Vorsteuerabzug geltend, der als Überhang aus der Erklärung für 1981 ausgewiesen wurde. Die italienische Finanzbehörde war der Auffassung, dass die Klägerin die Mehrwertsteuererklärung für 1981 verspätet eingereicht habe und daher in der Erklärung für 1982 den Vorsteuerüberhang aus 1981 nicht zum Abzug bringen könne.
Die Klägerin meinte, das Recht, den Vorsteuerüberhang eines Jahres in den Folgejahren abziehen zu können, erlösche nach Art. 28 des Dekrets Nr. 633/72 v. 26.10.1972 nur, wenn zwei negative Voraussetzungen erfüllt seien, nämlich wenn sowohl die Verrechnung im Erhebungszeitraum als auch die Abrechnung in der Jahreserklärung unterblieben seien. Da sie beide negative Voraussetzungen nicht erfüllt habe, habe sie nicht das Recht verloren, in der Erklärung für 1982 die Vorsteuer aus der Erklärung für 1981 zum Abzug zu bringen.
Die italienische Finanzbehörde meinte, dass die Einreichung der Mehrwertsteuererklärung für 1981 unstreitig verfristet gewesen sei und daher in jeder Hinsicht als wirkungslos anzusehen sei. Dass die Klägerin in der Erklärung für 1982 ein Guthaben abgezogen habe, das sich nicht aus einer gültigen und wirksamen Erklärung für 1981 ergeben habe, sei daher rechtswidrig.
Das Vorlagegericht wies darauf hin, dass die Finanzverwaltung in den ersten beiden Rechtszügen des vorliegenden Verfahrens vollständig unterlegen gewesen sei und das erkennende Gericht daher nach Art. 3 des Dekrets v. 25.3.2010, umgewandelt in das Gesetz Nr. 73 v. 22.5.2010, den Rechtsstreit automatisch beenden müsste.
Fraglich war daher die unionsrechtliche Zulässigkeit einer solchen nationalen Regelung, die laufende Gerichtsverfahren ohne Sachentscheidung beendet, sofern die Klageerhebung mehr als zehn Jahre zurückliegt und die Finanzverwaltung in den ersten beiden Rechtszügen unterlegen ist. Diese Regelung wurde in Italien offenbar im Hinblick auf das nach der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu beachtende Verbot überlanger Verfahrensdauer eingeführt.
Das vorlegende Gericht zweifelte angesichts des EuGH-Urteils v. 17.7.2008, C-132/06 (Kommission/Italien) an der unionsrechtlichen Zulässigkeit der Regelung. In diesem Urteil wurde eine Vertragsverletzung Italiens aufgrund einer Regelung zur Steueramnestie festgestellt. Nach der italienischen Amnestieregelung konnten sich Steuerpflichtige, die ihren Erklärungspflichten für die Besteuerungszeiträume zwischen 1998 und 2001 - also in bestimmten Fällen lediglich ein Jahr vor Erlass des Gesetzes - nicht nachgekommen waren, jeder Kontrolle und den anwendbaren Sanktionen bis zu einem Betrag entziehen, der dem Doppelten des Mehrwertsteuerbetrags entsprach, der in der ergänzenden Mehrwertsteuererklärung angegeben wurde. Denn die italienischen Behörden durften die in den vier Jahren vor Erlass des Gesetzes bewirkten steuerbaren Umsätze nicht mehr prüfen, wenn auch nur bis zur Höhe der in Art. 8 Abs. 6 des Gesetzes festgelegten Beträge. Daraus folgte, dass die Steuerpflichtigen, die in den Genuss dieses Artikels kamen, sich endgültig ihren Verpflichtungen zur Erklärung und Entrichtung der Mehrwertsteuer entziehen konnten, die sie normalerweise für die Besteuerungszeiträume 1998 bis 2001 hätten entrichten müssen. Der EuGH hat diese Praxis als Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht verurteilt. Er schloss aus Artikel 2 und 22 der 6. EG-Richtlinie sowie aus Art. 10 EG-Vertrag, dass jeder Mitgliedstaat verpflichtet ist, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in seinem Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten. Hierzu müssen die Mitgliedstaaten die Erklärungen der Steuerpflichtigen, deren Konten und die anderen einschlägigen Unterlagen prüfen und die geschuldete Steuer berechnen und einziehen. Im Rahmen des Gemeinsamen Mehrwertsteuersystems sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, die Beachtung der Verpflichtungen sicherzustellen, denen die Steuerpflichtigen unterliegen. Das vorlegende Gericht sah eine Vergleichbarkeit des Sachverhalts zu dieser EuGH-Entscheidung mit den genannten prozessbeendenden Bestimmungen, die im Ausgangsverfahren zu einem Verzicht auf eine bestehende Steuerforderung führen konnten.
Entscheidung
Der EuGH hat zwar keine Vergleichbarkeit mit dem Sachverhalt in seinem Urteil v. 17.7.2008, C-132/06 (Kommission/Italien) gesehen. Nach der jetzigen Entscheidung stehen die Art. 4 Abs. 3 EUV und die Art. 2 und 22 der 6. EG-Richtlinie gleichwohl einer nationalen Ausnahmevorschrift im Bereich der Mehrwertsteuer wie der im Ausgangsverfahren nicht entgegen, die die automatische Einstellung von bei dem drittins...