Entscheidungsstichwort (Thema)
Betriebsstillegung, Zahl der in der Regel Beschäftigten
Leitsatz (amtlich)
Geht der Stillegung eines Betriebes ein Personalabbau voraus, der sich über einen längeren Zeitraum erstreckt, so richtet sich die Zahl der regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer i.S. des § 111 BetrVG danach, wie sich der Personalabbau im Zeitablauf darstellt.
- Erweist er sich im Zeitpunkt des Stillegungsbeschlusses rückblickend als Vorstufe der Betriebsstillegung, die damit in der Form eines gleitenden Übergangs eingeleitet wurde, so bleibt er außer Betracht; maßgebend ist die ursprüngliche Beschäftigtenzahl.
- Sollte die Personalverminderung dagegen eine Fortführung des Betriebs ermöglichen und hat sie für eine nicht unerhebliche Zeit zu einer Stabilisierung der Belegschaftsstärke auf niedrigerem Niveau geführt, so ergibt sich die Zahl der in der Regel Beschäftigten aus der Belegschaftsstärke dieser Zwischenstufe.
- Die Umwandlung eines als VEB geführten Unternehmens in eine GmbH aufgrund des DDR-Treuhandgesetzes ist keine Neugründung, die nach § 112a BetrVG die Erzwingbarkeit eines Sozialplans ausschließen könnte.
Normenkette
BetrVG §§ 111, 112a
Verfahrensgang
Thüringer LAG (Beschluss vom 14.09.1994; Aktenzeichen 2 TaBV 6/93) |
ArbG Gera (Beschluss vom 09.08.1993; Aktenzeichen 4 BV 8/93) |
Tenor
Von Rechts wegen!
Tatbestand
A. Die Beteiligten streiten darüber, ob der Betriebsrat aus Anlaß der Auflösung einer Niederlassung der Arbeitgeberin nach den §§ 111 ff. BetrVG zu beteiligen war.
Die Arbeitgeberin ist aus dem früheren VEB Druckerei V… hervorgegangen. Sie wurde am 24. September 1990 als GmbH im Aufbau in das Handelsregister eingetragen. Zu dieser Zeit bestand das Unternehmen aus drei Betrieben in G…, R… und Gr…. In Gr… waren bis Anfang 1992 mindestens 25 Arbeitnehmer beschäftigt. Dort wurden auf Weisung der Treuhandanstalt, die Alleingesellschafterin der Arbeitgeberin war, seit Januar 1992 mehrere Arbeitnehmer entlassen, um das Unternehmen im Hinblick auf die geplante Privatisierung wirtschaftlich attraktiver zu machen. Am 17. September 1992 übernahm ein Unternehmen der W…-Gruppe die von der Treuhandanstalt gehaltenen Geschäftsanteile der Arbeitgeberin, die seit dem 31. Juli 1992 als GmbH im Handelsregister eingetragen war.
Am 28. Februar 1993 wurde der Betrieb in Gr… geschlossen. Die noch vorhandenen Arbeitnehmer schieden entweder aufgrund von Aufhebungsverträgen aus oder wurden in andere Betriebe des Unternehmens versetzt. Die ausscheidenden Arbeitnehmer, darunter (zum 31. März 1993) der Betriebsratsvorsitzende, erhielten Abfindungen und erklärten einen “Klageverzicht”, über dessen Inhalt nichts näheres festgestellt ist. Die vom Betriebsrat im Dezember 1992 geforderten Verhandlungen über einen Interessenausgleich und einen Sozialplan lehnte die Arbeitgeberin ab. Auf Antrag des Betriebsrats bestellte das Arbeitsgericht Gera (– 2 BV 3/93 –) wegen eines Interessenausgleichs und eines Sozialplans für den Betrieb in Gr… die Vorsitzende einer Einigungsstelle; auch die Zahl der Beisitzer wurde festgelegt. Ob diese Entscheidung rechtskräftig und die Einigungsstelle tätig geworden ist, hat das Landesarbeitsgericht nicht aufgeklärt.
Die Arbeitgeberin hat die Auffassung vertreten, bei der Stillegung des Betriebs in Gr… sei der Betriebsrat nicht nach den §§ 111 ff. BetrVG zu beteiligen gewesen. Zur Zeit der Entscheidung über die Stillegung, die auf Veranlassung der neuen Gesellschafterin Ende 1992 getroffen worden sei, habe die Zahl der in der Regel im Betrieb beschäftigten wahlberechtigten Arbeitnehmer nicht mehr über 20 gelegen. Unmaßgeblich für die Anwendung der §§ 111 ff. BetrVG sei die Zahl der Beschäftigten Anfang 1992, die sich noch nach den wirtschaftlichen Verhältnissen in der ehemaligen DDR gerichtet habe. Vielmehr sei bei Treuhandunternehmen von derjenigen Arbeitnehmerzahl auszugehen, die ein Betrieb erreicht habe, nachdem er in “marktfähigen” Zustand versetzt worden sei. Das von der Treuhandanstalt verfolgte und bis zum Gesellschafterwechsel abgeschlossene Sanierungskonzept habe dazu geführt, daß dem Betrieb zum maßgebenden Zeitpunkt neben einem leitenden Angestellten nur noch 20 wahlberechtigte Arbeitnehmer angehört hätten. Die Stillegung müsse unabhängig von der zuvor erfolgten Personalreduzierung gesehen werden. Sie sei beschlossen worden, nachdem seit Mitte 1992 ein unerwarteter Auftragseinbruch eingetreten sei und die vorangegangene Sanierung deshalb nichts mehr genützt habe.
Unabhängig von der Zahl der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer könne ein Sozialplan ohnehin nicht erzwungen werden, weil die Arbeitgeberin erst weniger als vier Jahre vor der Stilllegung gegründet worden sei. Auch hätten die ausgeschiedenen Arbeitnehmer Abfindungen erhalten und auf Klagen verzichtet. Schließlich gebe es keinen Betriebsrat mehr, der die geltend gemachten Beteiligungsrechte ausüben könnte.
Die Arbeitgeberin hat beantragt
festzustellen, daß seitens des beteiligten Betriebsrats in Zusammenhang mit der Auflösung der Niederlassung Gr… ein Mitbestimmungsrecht gemäß §§ 111 ff. BetrVG nicht besteht.
Der Betriebsrat hat beantragt,
den Antrag zurückzuweisen.
Nach seiner Meinung war er bei der Betriebsstillegung nach den §§ 111 ff. BetrVG zu beteiligen. Die Zahl der in Gr… regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer habe deutlich über 20 gelegen. Maßgebend sei die Belegschaftsstärke vor dem Personalabbau durch die Treuhandanstalt. Es sei zwar richtig, daß dieser in zwei Wellen stattgefunden habe, und zwar zunächst von Januar bis März 1992 und dann von Ende September 1992 bis zur Betriebsschließung. Diese beiden Schritte dürften aber nicht isoliert betrachtet werden. Es sei typisch, daß bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten vor einer Betriebsstillegung zunächst versucht werde, durch Personalreduzierung Abhilfe zu schaffen. Für Treuhandunternehmen gebe es insoweit keine Besonderheiten. Auf die Arbeitnehmerzahl zum Zeitpunkt des Gesellschafterwechsels komme es nicht an. Im übrigen habe diese bei 21 gelegen. Die Arbeitgeberin habe bei ihrer Berechnung nicht berücksichtigt, daß der Arbeitnehmer Lothar D… erst zum 30. September 1992 ausgeschieden sei.
Der Erzwingbarkeit eines Sozialplans stehe die Neugründung der Arbeitgeberin nicht entgegen. Diese sei Teil der rechtlichen Umstrukturierung des Unternehmens. Die den Arbeitnehmern gezahlten Abfindungen und die Erklärungen, auf Klagen verzichten zu wollen, seien für die Beteiligungsrechte nach den §§ 111 ff. BetrVG unerheblich. Der Wahrnehmung dieser Beteiligungsrechte stehe auch das Ausscheiden von Betriebsratsmitgliedern nicht entgegen; diese könnten aufgrund eines Restmandats tätig werden.
Das Arbeitsgericht hat den Antrag der Arbeitgeberin abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Beschwerde der Arbeitgeberin hat das Landesarbeitsgericht zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt die Arbeitgeberin ihren Feststellungsantrag weiter. Der Betriebsrat bittet um Zurückweisung der Rechtsbeschwerde.
Entscheidungsgründe
B. Die Rechtsbeschwerde der Arbeitgeberin hat Erfolg. Mit der vom Landesarbeitsgericht gegebenen Begründung konnte ihr Antrag nicht abgewiesen werden. Eine abschließende Entscheidung ist indessen noch nicht möglich, weil es hierfür weiterer Sachaufklärung bedarf.
I. Der Feststellungsantrag der Arbeitgeberin, der sich nach entsprechender Klarstellung in der mündlichen Anhörung vor dem Senat auf die §§ 111 ff. BetrVG bezieht, ist zulässig.
1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats kann ein Streit zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat darüber, ob in einer bestimmten Angelegenheit ein Mitbestimmungsrecht besteht, mit einem Feststellungsantrag zur gerichtlichen Entscheidung gestellt werden. Das nach § 256 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse ist hier nicht etwa deshalb entfallen, weil die Arbeitgeberin die Betriebsstillegung, die der Betriebsrat für sozialplanpflichtig hält, schon durchgeführt hat. Es geht hier nicht um einen in der Vergangenheit liegenden abgeschlossenen Vorgang. Vielmehr nimmt der Betriebsrat das Recht, gegenüber der Arbeitgeberin einen Sozialplan durchzusetzen, noch jetzt in Anspruch. Ein solches Recht wird dadurch, daß der Betrieb bereits stillgelegt ist, nicht ausgeschlossen.
2. Der Zulässigkeit des Antrags steht auch nicht entgegen, daß wegen der Errichtung einer Einigungsstelle vor dem Arbeitsgericht Gera bereits ein anderes Verfahren – 2 BV 3/93 – durchgeführt wurde.
Zwar schließt es § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO für die Dauer der Rechtshängigkeit aus, daß eine Streitsache anderweitig anhängig gemacht wird. Die Sperre gilt aber nur für denselben Streitgegenstand. Daran fehlt es hier. Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens ist die Feststellung, daß ein Mitbestimmungsrecht nicht besteht. Streitgegenstand des anderen Verfahrens – 2 BV 3/93 – war dagegen die Bestellung einer Einigungsstellenvorsitzenden und die Feststellung der Zahl der Beisitzer. In diesem Verfahren ist nicht abschließend darüber entschieden worden, ob überhaupt ein Mitbestimmungsrecht vorliegt, das die Zuständigkeit der Einigungsstelle begründen kann. Zwar sind nach § 98 Abs. 1 Satz 2 ArbGG die Anträge zurückzuweisen, wenn der Vorsitzende der angerufenen Kammer die Einigungsstelle für offensichtlich unzuständig hält. Die hierfür in einem summarischen Verfahren vorzunehmende Überprüfung kann aber ein Beschlußverfahren über das Bestehen des Mitbestimmungsrechts nicht ausschließen. Das ergibt sich schon daraus, daß in einem solchen Beschlußverfahren die Kammern des Arbeitsgerichts und des Landesarbeitsgerichts in voller Besetzung entscheiden und die Rechtsbeschwerde an das Bundesarbeitsgericht möglich ist, während nach § 98 ArbGG der Kammervorsitzende des Arbeitsgerichts bzw. des Landesarbeitsgerichts allein entscheidet und ein weiteres Rechtsmittel ausgeschlossen ist. So hat der Senat auch bisher schon die gleichzeitige Durchführung von Verfahren zur Feststellung eines Mitbestimmungsrechts und zur Bestellung eines Einigungsstellenvorsitzenden für möglich gehalten und insoweit auch das Feststellungsinteresse bejaht (BAGE 62, 1, 4 f. = AP Nr. 3 zu § 98 ArbGG 1979, zu B I 2b der Gründe, m.w.N.).
II. Die Begründung, mit der das Landesarbeitsgericht den Feststellungsantrag der Arbeitgeberin abgewiesen hat, trägt den angefochtenen Beschluß nicht.
Das Landesarbeitsgericht hat in Übereinstimmung mit dem Arbeitsgericht angenommen, die Stillegung des Betriebs in Gr… sei eine sozialplanpflichtige Betriebsänderung i.S. des § 111 BetrVG gewesen, weil dem Betrieb in der Regel mehr als 20 wahlberechtigte Arbeitnehmer angehört hätten. Die für den Betrieb allgemein kennzeichnende Personalstärke bestimme sich nach den Verhältnissen vor der Personalreduzierung, die Ende Januar 1992 auf Weisung der Treuhandanstalt begonnen worden war. Damals seien in dem Betrieb mindestens 25 Arbeitnehmer beschäftigt gewesen. Die weitere Entwicklung sei unerheblich, weil sie lediglich als kontinuierliche Fortsetzung des Personalabbaus bis zur Betriebsschließung anzusehen sei, selbst wenn sie auf unterschiedlichen Unternehmerentscheidungen beruht haben sollte. Vor dem Beschluß über die Betriebsstillegung sei es nicht mehr zur erneuten Bildung einer regelmäßigen festen Beschäftigtenzahl gekommen.
Damit hat das Landesarbeitsgericht die Anforderungen verkannt, die nach § 111 BetrVG zu stellen sind, soweit die Zahl der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer zu bestimmen ist.
1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ist bei der Ermittlung dieser Zahl von dem Zeitpunkt auszugehen, in dem die fraglichen Beteiligungsrechte des Betriebsrats entstehen. Das ist im Fall der Betriebsstillegung der Stillegungsbeschluß, der hier im Dezember 1992 gefaßt worden ist. Allerdings ist für die Bestimmung der regelmäßigen Beschäftigung nicht entscheidend, wie viele Arbeitnehmer dem Betrieb zufällig zu dieser Zeit angehören. Vielmehr ist auf die normale Zahl der Beschäftigten abzustellen, also auf die Personalstärke, die für den Betrieb im allgemeinen kennzeichnend ist. Dies erfordert regelmäßig sowohl einen Rückblick als auch eine Prognose. Im Fall einer Betriebsstillegung kann allerdings nur ein Rückblick auf die bisherige Belegschaftsstärke in Frage kommen (BAGE 42, 1, 8 = AP Nr. 7 zu § 113 BetrVG 1972, zu II 1 der Gründe; BAGE 55, 344, 352 = AP Nr. 20 zu § 111 BetrVG 1972, zu II 2a der Gründe, jeweils m.w.N.).
Wie weit dieser Rückblick in die Vergangenheit zu reichen hat, kann nicht für alle Fälle gleichermaßen in einer bestimmten Zahl von Zeiteinheiten ausgedrückt werden. Vielmehr kann der normale Personalbestand nur anhand der Gegebenheiten ermittelt werden, die im Einzelfall die Entwicklung des Betriebs kennzeichnen. Dabei ist zum einen zu berücksichtigen, daß der Begriff “in der Regel” ein zeitliches Element enhält, so daß für einen als normal anzusehenden Personalbestand eine gewisse Dauer zu fordern ist. Zum andern hängt die Beurteilung, welche Belegschaftsstärke für den Betrieb im allgemeinen kennzeichnend ist, auch von den personalwirtschaftlichen Entscheidungen des Arbeitgebers ab. Ist beispielsweise der kontinuierlicher Abbau der Belegschaft unmittelbar vorangegangen, so bleibt dieser für den Rückblick auf die bisherige Belegschaftsstärke unbeachtlich, weil der Personalabbau dann lediglich als gleitender Übergang von der normalen Arbeitnehmerzahl zur völligen Stillegung zu betrachten ist. Dient die Verminderung der Belegschaft dagegen der Rationalisierung, um den Betrieb in vermindertem Umfang fortführen zu können, und stabilisiert sich der Personalbestand zunächst auf niedrigerem Niveau, so ergibt sich daraus eine neue, den Betrieb kennzeichnende regelmäßige Personalstärke. Von dieser ist dann auszugehen, wenn die Stillegung des Betriebs später doch noch beschlossen wird, weil sich die an die Rationalisierung geknüpften Erwartungen nicht erfüllt haben.
2. Hiernach kommen im vorliegenden Fall Beteiligungsrechte nach den §§ 111 ff. BetrVG dann nicht in Betracht, wenn sich der Personalbestand des Betriebs aufgrund der Rationalisierungsmaßnahmen der Treuhandanstalt vor der Stillegungsentscheidung bei weniger als 21 Arbeitnehmern stabilisiert hatte. Lag der Personalbestand dagegen bei 21 Arbeitnehmern oder hat, wie das Landesarbeitsgericht annimmt, seit Ende Januar 1992 bis zur Stillegung ein kontinuierlicher Personalabbau stattgefunden, so erfüllte der Betrieb nach der Zahl der Arbeitnehmer die Voraussetzungen für die Anwendung der §§ 111 ff. BetrVG.
Nach dem Vorbringen des Betriebsrats, zu dem sich die Arbeitgeberin nicht geäußert hat, war die erste “Welle” der Entlassungen am 31. März 1992 abgeschlossen; die zweite begann erst am 30. September 1992 mit der Kündigung eines Arbeitnehmers und wurde am 27. November 1992 mit einer weiteren Kündigung fortgeführt. Sollte in der Zwischenzeit, was nicht aufgeklärt ist, kein weiterer Personalabbau auf anderem Wege stattgefunden haben, so wäre davon auszugehen, daß mit dem Ende der ersten Entlassungswelle eine neue Belegschaftsstärke erreicht wurde, die sich für eine Zeit von sechs Monaten stabilisierte und damit hinreichend lang war, um als normal angesehen zu werden. Dieser Annahme steht nicht entgegen, daß sich ab Mitte 1992 die Auftragslage verschlechterte und dann möglicherweise keine Betriebstätigkeit mehr zuließ, die dieser Arbeitnehmerzahl angepaßt war. Im Gegenteil spricht es für eine neue regelmäßige Beschäftigtenzahl, wenn die Arbeitgeberin den überhöhten Personalbestand zunächst gehalten und erstmals zum 30. September 1992 mit einer neuen Entlassung reagiert hat. Das hat das Landesarbeitsgericht nicht berücksichtigt.
Sollte sich ergeben, daß der Betrieb tatsächlich zwischen März und September 1992 einen Personalbestand erreicht hat, der für ihn nunmehr als normal anzusehen war, so stellt sich eine weitere Tatfrage. Es ist dann zu ermitteln, ob der neue Personalbestand bei 20 – so die Arbeitgeberin – oder bei 21 – so der Betriebsrat – wahlberechtigten Arbeitnehmern lag. Das Landesarbeitsgericht hat hierzu, aus seiner Sicht folgerichtig, nichts festgestellt. Es hat die Zahl der Arbeitnehmer offengelassen und auch die Frage nicht geklärt, ob sich unter ihnen, wie die Arbeitgeberin meint, ein leitender Angestellter befand, der nicht mitzuzählen wäre.
3. Entgegen der Auffassung der Arbeitgeberin spielt allerdings der Umstand, daß es sich bei ihr um ein von der Treuhandanstalt privatisiertes Unternehmen handelte, keine Rolle. Die für einen Betrieb normale Arbeitnehmerzahl im Sinne von § 111 BetrVG hängt nicht davon ab, mit welcher Belegschaftsstärke der Betrieb “marktfähig” ist.
Zwar ist nicht zu verkennen, daß die Betriebe in der ehemaligen DDR nach marktwirtschaftlichen Maßstäben häufig personellüberbesetzt waren. Dies ändert aber nichts daran, daß dieser Personalbestand für den jeweiligen Betrieb normal war. Das hat auch der Gesetzgeber im Zuge der Vereinigung so gewertet. Das Betriebsverfassungsgesetz galt seit dem 1. Juli 1990 nach § 30 des Gesetzes über die Inkraftsetzung von Rechtsvorschriften der Bundesrepublik Deutschland in der Deutschen Demokratischen Republik vom 21. Juni 1990 (GBl. DDR I S. 357) – Mantelgesetz – auch in der damaligen DDR. Für seine Anwendung galten (ebenso nach dem Beitritt gem. Anl. I Kap. VIII Sachgeb. A Abschn. III Nr. 12 zum Einigungsvertrag) verschiedene “Maßgaben”, die den besonderen Gegebenheiten in der ehemaligen DDR Rechnung tragen sollten. Für die Berechnung der regelmäßigen Belegschaftsstärke nach § 111 BetrVG bestanden indessen keine derartigen Sondervorschriften, obwohl schon damals offenkundig war, daß die Strukturen der Betriebe in der DDR nicht durch die Erfordernisse der “Marktfähigkeit” geprägt waren. Wäre eine Einschränkung des § 111 BetrVG gewollt gewesen, so hätte der Einigungsvertrag – und vorher das Mantelgesetz – entsprechende Maßgaben enthalten müssen.
Im übrigen ist eine personelle Überbesetzung keine Besonderheit der von der Treuhandanstalt gehaltenen Unternehmen. Im Anwendungsbereich des § 111 BetrVG ist es auch für marktwirtschaftlich geführte Unternehmen keineswegs untypisch, daß der vor einer Betriebsreduzierung oder -stillegung vorhandene Personalbestand, gemessen an den Erfordernissen der Wettbewerbsfähigkeit, als zu hoch angesehen wird, Gerade hierin liegt vielfach der Grund für einen Personalabbau, der die Beteiligungsrechte nach den §§ 111 ff. BetrVG auslöst.
4. Die Arbeitgeberin verkennt ferner, daß für die Bestimmung der Zahl der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer der Zeitpunkt des Gesellschafterwechsels unerheblich ist. Die Arbeitsverhältnisse bestehen mit der GmbH, nicht mit deren Gesellschaftern. Die bloße Übertragung der Geschäftsanteile wirkt sich weder auf den Bestand der GmbH noch auf denjenigen der Arbeitsverhältnisse aus. Nur mittelbar und erst dann können die Arbeitsverhältnisse von einem Gesellschafterwechsel betroffen werden, wenn die neue Alleingesellschafterin durch Weisungen in die Geschäftsführung der GmbH eingreift. Das ist im hier erheblichen Zusammenhand erst mit dem Stillegungsbeschluß vom Dezember 1992 geschehen.
III. Zutreffend hat das Landesarbeitsgericht erkannt, daß die Erzwingbarkeit eines Sozialplans hier nicht an § 112a Abs. 2 BetrVG scheitern könnte. Zwar lag die Gründung der Arbeitgeberin als GmbH weniger als vier Jahre vor der Betriebsstillegung. Das ändert nach § 112a Abs. 2 Satz 2 BetrVG aber nichts an einer etwa bestehenden Sozialplanpflichtigkeit, denn diese Gründung war Folge der rechtlichen Umstrukturierung des vorher als VEB geführten Unternehmens (Fitting/Auffarth/Kaiser/Heither, BetrVG, 17. Aufl., §§ 112, 112a Rz 18c). Nach § 11 Abs. 2 des DDR-Gesetzes zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens (Treuhandgesetz-DDR) vom 17. Juni 1990 (GBl. DDR I S. 300) wechselte das Unternehmen zum 1. Juli 1990 in die Rechtsform einer GmbH.
IV. Zu folgen ist dem Landesarbeitsgericht auch in der Annahme, daß die Klageverzichtserklärungen der Arbeitnehmer und die an sie gezahlten Abfindungen einer möglichen Sozialplanpflichtigkeit der Stillegung nicht im Wege stehen. Individualrechtliche Rechtsgeschäfte können kollektive Beteiligungsrechte des Betriebsrats nicht schmälern. Die Rechte des Betriebsrats sind der Verfügung einzelner Arbeitnehmer entzogen. Inwieweit Abfindungen und Klageverzicht bei der Ausgestaltung eines möglichen Sozialplans zu berücksichtigen sein können, ist hier nicht zu entscheiden.
V. Schließlich sind die Vorinstanzen auch zu Recht davon ausgegangen, daß der Betriebsrat sein möglicherweise bestehendes Mitbestimmungsrecht noch ausüben könnte, obwohl die Arbeitsverhältnisse seiner Mitglieder mit der Arbeitgeberin inzwischen geendet haben. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats behält der Betriebsrat im Fall einer Betriebsstillegung ein Restmandat, soweit dies erforderlich ist, um seine in Zusammenhang mit der Stillegung stehenden gesetzlichen Aufgaben zu erfüllen. Das Restmandat ist vom Bestand der Arbeitsverhältnisse der Betriebsratsmitglieder unabhängig. Es ist in einem solchen Fall auch nicht etwa auf die Dauer der regulären Amtszeit des Betriebsrats begrenzt (BAGE 55, 344, 352 ff. = AP Nr. 20 zu § 111 BetrVG 1972, zu II 2b und c der Gründe).
Unterschriften
Dieterich, Rost, Wißmann, Schneider, Münzer
Fundstellen
JR 1996, 176 |
NZA 1996, 166 |