Entscheidungsstichwort (Thema)
Anspruch auf Vorruhestand
Leitsatz (amtlich)
- Nach dem Tarifvertrag vom 10. April 1984 zur vorgezogenen freiwilligen Pensionierung (Vorruhestands-Tarifvertrag) für das private Bankgewerbe in der Bundesrepublik Deutschland und im Land Berlin haben Arbeitnehmer keinen Anspruch auf Abschluß eines Vorruhestandsvertrages.
- Der Arbeitgeber darf den Antrag eines Arbeitnehmers auf Abschluß eines solchen Vorruhestandsvertrages nur ablehnen, wenn er dafür einen sachlichen Grund hat (entspr Anwendung von § 315 Abs 1 BGB).
Normenkette
VRG §§ 1, 2 Abs. 1 Nr. 4; BGB § 315 Abs. 1; ZPO § 91a Abs. 1 S. 1, § 128 Abs. 2 S. 1, § 894 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
LAG Hamburg (Urteil vom 15.12.1986; Aktenzeichen 4 Sa 29/86) |
ArbG Hamburg (Urteil vom 15.01.1986; Aktenzeichen 23 Ca 136/85) |
Tenor
Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Tatbestand
A. Die Parteien haben darum gestritten, ob die Beklagte verpflichtet war, das Arbeitsverhältnis zum Zweck der Inanspruchnahme von Vorruhestandsleistungen aufzuheben. Sie haben in der Revisionsinstanz übereinstimmend den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt und beantragt, über die Kosten zu entscheiden (§ 91a Abs. 1 ZPO).
Die am 18. Oktober 1927 geborene Klägerin war seit dem 1. Oktober 1958 als Angestellte bei der beklagten Sparkasse tätig. Auf das Arbeitsverhältnis fand der Tarifvertrag vom 10. April 1984 zur vorgezogenen freiwilligen Pensionierung (Vorruhestands-Tarifvertrag) für das private Bankgewerbe in der Bundesrepublik Deutschland und im Land Berlin Anwendung; beide Parteien waren tarifgebunden.
Die Klägerin wurde am 12. August 1980 arbeitsunfähig krank. Sie hat seit diesem Zeitpunkt nicht mehr gearbeitet. Mit Schreiben vom 11. Januar 1985 forderte die Klägerin die beklagte Sparkasse auf, mit ihr zum 1. November 1985 eine Vereinbarung zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses zum Zweck der Inanspruchnahme von Vorruhestandsgeld abzuschließen. Die Beklagte weigerte sich mit der Begründung, sie habe den Arbeitsplatz der Klägerin schon vor langer Zeit anderweitig besetzt, die Inanspruchnahme des Vorruhestandsgeldes sei rechtsmißbräuchlich. Die Klägerin hat daraufhin Klage erhoben mit dem Antrag,
die Beklagte zu verurteilen, der Vereinbarung zur Beendigung des bestehenden Arbeitsverhältnisses zum Zweck der Inanspruchnahme von Vorruhestandsgeld ab 1. November 1985 zuzustimmen.
Die beklagte Sparkasse hatte beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, nach dem genannten Tarifvertrag sei sie nicht zum Abschluß eines Aufhebungsvertrages verpflichtet. Die Klägerin könne Vorruhestandsleistungen nur verlangen, wenn der Arbeitgeber freiwillig einen Aufhebungsvertrag abgeschlossen habe. Der Zweck, der mit dem Tarifvertrag verfolgt werde, könne im Fall der Klägerin nicht erreicht werden. Wegen ihrer langandauernden Krankheit habe ein anderer Arbeitnehmer längst ihren Arbeitsplatz eingenommen.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin ist ohne Erfolg geblieben. Das Landesarbeitsgericht hat sich der Auffassung der Beklagten angeschlossen; der Tarifvertrag gebe der Klägerin keinen Anspruch auf Abschluß des Vorruhestandsvertrages.
Wegen des Eintritts der Klägerin in den Ruhestand am 1. November 1987 (Vollendung des 60. Lebensjahres) hat die Klägerin den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt. Die Beklagte hat sich dieser Erledigungserklärung angeschlossen. Beide Parteien haben beantragt, über die Kosten des Rechtsstreits nach § 91a Abs. 1 ZPO zu entscheiden.
Entscheidungsgründe
B. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits nach § 91a Abs. 1 Satz 1 ZPO zu tragen. Diese Kostenentscheidung entspricht dem bisherigen Sach- und Streitstand. Der Senat hätte die Revision der Klägerin als unbegründet zurückgewiesen. Der Anspruch der Klägerin war von Anfang an unbegründet.
1. Die Klage war gerichtet auf die Verurteilung der Beklagten zur Abgabe einer Willenserklärung. Die Klägerin hatte der Beklagten angeboten, das Arbeitsverhältnis zum Zweck der Inanspruchnahme von Vorruhestandsgeld aufzuheben. Die von der Beklagten verweigerte Zustimmung sollte durch das Urteil ersetzt werden (§ 894 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
2. Der Anspruch der Klägerin auf Abschluß eines Aufhebungsvertrages könnte sich nur aus § 2 des Tarifvertrages zur vorgezogenen freiwilligen Pensionierung (Vorruhestands-Tarifvertrag) ergeben. Diese Bestimmung lautet:
“
- Anspruchsvoraussetzungen
- Arbeitnehmer mit einer mindestens zehnjährigen Betriebszugehörigkeit haben für 1 Jahr, mit einer mindestens 25 jährigen Betriebszugehörigkeit für 2 Jahre vor der frühesten Möglichkeit des gesetzlichen Rentenbezugs Anspruch auf Leistungen nach diesem Tarifvertrag, sofern ihr Arbeitsverhältnis durch eine Vereinbarung mit dem Arbeitgeber zum Zwecke der Inanspruchnahme von Vorruhestandsgeld beendigt ist.
- Der Arbeitnehmer hat das Anliegen 9 Monate vor dem gewünschten Beendigungstermin anzukündigen.
- Der Betriebs-/Personalrat ist von der Vereinbarung der vorgezogenen freiwilligen Pensionierung zu informieren.
- Für die Beteiligung des Betriebs-/Personalrats bei der Wiederbesetzung freiwerdender Arbeitsplätze gelten die gesetzlichen Bestimmungen.
- Der Anspruch nach Ziff. 1 entsteht letztmalig im Jahre 1988, sofern eine Vertragspartei den Vertrag mit einer Frist von einem Jahr zum 31. Dezember 1987 kündigt.
”
a) Der Wortlaut des Tarifvertrages ist unklar. Er trägt zwar die Überschrift “Anspruchsvoraussetzungen”. Doch werden keine Tatbestände bezeichnet, die einen Anspruch auf Abschluß einer Vereinbarung zum Zwecke der Inanspruchnahme von Vorruhestandsgeld begründen sollen. Zu unterscheiden ist zwischen dem Anspruch auf Abschluß eines Vorruhestandsvertrages (vereinbarte Aufhebung des Arbeitsverhältnisses “zum Zwecke der Inanspruchnahme von Vorruhestandsgeld”) und dem Anspruch auf Vorruhestandsleistungen. Die Vorruhestandsleistungen sind von dem Abschluß eines Vorruhestandsvertrages abhängig. Sie setzen voraus, daß das Arbeitsverhältnis durch diese Vorruhestandsvereinbarung beendigt ist. Die unter § 2 Nr. 1 genannten Voraussetzungen einer zehnjährigen Betriebszugehörigkeit und der Möglichkeit, Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung beanspruchen zu können, beziehen sich nur auf den Anspruch des Arbeitnehmers auf Vorruhestandsgeld. Sie müssen nach dem Zustandekommen einer Vorruhestandvereinbarung zusätzlich erfüllt werden.
Der Wortlaut schließt andererseits auch nicht aus, dem Arbeitnehmer unter den in § 2 Nr. 1 genannten Voraussetzungen einen Anspruch auf Abschluß eines Vorruhestandsvertrages einzuräumen. Für diese Auslegung spricht § 2 Nr. 2 des Tarifvertrages. Die Verpflichtung des Arbeitnehmers, seinen Wunsch auf Abschluß eines Vorruhestandsvertrages neun Monate vorher anzukündigen, ist nur sinnvoll, wenn der Arbeitgeber unter diesen Voraussetzungen den Aufhebungsvertrag auch abschließen muß. Wäre der Abschluß eines Aufhebungsvertrages in das Belieben des Arbeitgebers gestellt, wäre diese Vorschrift unnötig und überflüssig.
b) Gegen die Auslegung, die die Klägerin für richtig hält, spricht der mit dem Tarifvertrag verfolgte Zweck. Der Tarifvertrag ist in zeitlichem Zusammenhang mit dem Gesetz zur Förderung von Vorruhestandsleistungen (VRG) in Kraft getreten. Das Vorruhestandsgesetz will älteren Arbeitnehmern das Ausscheiden aus dem Berufsleben erleichtern. Es fördert dieses Ausscheiden dadurch, daß der Arbeitgeber zum Vorruhestandsgeld einen Zuschuß von der Bundesanstalt für Arbeit erhält (§ 1 VRG). Der Anspruch auf den Zuschuß setzt voraus, daß die freie Entscheidung des Arbeitgebers, ob er den Arbeitnehmer in den Vorruhestand mit Vorruhestandsgeld entlassen will, bei einer über 5 v. H. der Arbeitnehmer des Betriebes hinausgehenden Inanspruchnahme sichergestellt ist (§ 2 Abs. 1 Nr. 4 VRG). Der Arbeitgeber ist in seiner Entscheidung frei, wenn der Tarifvertrag entweder eine “Überforderungsklausel” enthält (Ausschluß von Ansprüchen, wenn mehr als 5 v. H. der Arbeitnehmer den Vorruhestand in Anspruch nehmen wollen) oder wenn den Arbeitnehmern kein Anspruch auf Abschluß eines Vorruhestandsvertrages eingeräumt wird. Auch dann kann sich der Arbeitgeber vor einer Überforderung schützen.
Im vorliegenden Fall sind die Tarifvertragsparteien ersichtlich den zweiten Weg gegangen. Der Tarifvertrag enthält keine Überforderungsklausel im engeren Sinne. Ansprüche auf Zuschuß zu Vorruhestandsleistungen konnten die Arbeitgeber deshalb nur dann erhalten, wenn sie Ansprüche der Arbeitnehmer auf Abschluß eines Vorruhestandsvertrages ausschlossen. Wären die Arbeitgeber, die an den Vorruhestands-Tarifvertrag des Bankgewerbes gebunden sind, immer und unter allen Umständen verpflichtet, Aufhebungsverträge zum Zweck der Inanspruchnahme des Vorruhestandes abzuschließen, wäre ihre freie Entscheidung im Sinne dieser gesetzlichen Regelung nicht sichergestellt.
c) Unter diesen Voraussetzungen spricht mehr gegen die Einräumung eines Anspruchs auf Abschluß eines Vorruhestandsvertrages als für die Einräumung eines solchen Anspruchs im Tarifvertrag. Zudem sind Verpflichtungen zum Abschluß von Vorruhestandsverträgen in anderen Tarifverträgen regelmäßig deutlicher formuliert (vgl. etwa Tarifvertrag zur Einführung einer Vorruhestandsregelung zwischen dem Verband mittelständischer Privatbrauereien in Bayern e. V. und der Gewerkschaft Nahrung, Genuß und Gaststätten, Landesbezirk Bayern, vom 23. November 1984, der der Entscheidung des Senats vom 22. März 1988 – 3 AZR 444/87 – zugrunde lag). Diese Unklarheit geht zu Lasten der Klägerin.
3. Das Landesarbeitsgericht hätte den geltend gemachten Anspruch zwar noch unter einem anderen rechtlichen Gesichtspunkt prüfen müssen. Eine andere Entscheidung hätte die Klägerin im Ergebnis jedoch nicht erreichen können.
Die Klägerin hat zwar keinen tarifvertraglichen Anspruch auf Abschluß des Vorruhestandsvertrages. Der Arbeitgeber ist auch nicht in allen Fällen, in denen Arbeitnehmer die in § 2 Nr. 1 und 2 Vorruhestands-Tarifvertrag genannten Voraussetzungen erfüllen, zum Abschluß eines solchen Aufhebungsvertrages verpflichtet. Doch kann der Arbeitgeber den Abschluß eines solchen Vertrages nicht ohne sachlichen Grund ablehnen. Seine Entscheidung, in Einzelfällen den Abschluß eines Vorruhestandsvertrages zu verweigern, muß billigem Ermessen entsprechen. § 315 Abs. 1 BGB ist entsprechend anzuwenden.
Tarifverträge, die die Inanspruchnahme des Vorruhestandes durch Arbeitnehmer erleichtern sollen, haben keinen Sinn, wenn der Abschluß einer Vorruhestandsvereinbarung in das Belieben des Arbeitgebers gestellt wäre. Auch der vorliegende Tarifvertrag beschränkt sich nicht auf die Regelung der Rechtsfolgen nach Abschluß eines Vorruhestandsvertrages. Er enthält in § 2 Nr. 2 eine Regelung, die das Zustandekommen eines Vorruhestandsvertrages betrifft. Der Arbeitgeber soll sich bei Einhaltung der Ankündigungsfrist nicht darauf berufen können, es sei ihm aus technischen und organisatorischen Gründen nicht möglich, den Arbeitnehmer in den Vorruhestand zu entlassen. Bei Vorliegen dieser Voraussetzungen wird es deshalb in der Regel billigem Ermessen entsprechen, wenn der Arbeitgeber den Wünschen des Arbeitnehmers entspricht. In diesem Sinne hat sich der Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes des privaten Bankgewerbes e. V. geäußert.
Hat aber der Arbeitgeber über den Antrag des Arbeitnehmers nach billigem Ermessen zu entscheiden, so kann er besondere Umstände, die dem Aufhebungsvertrag im Einzelfall entgegenstehen können, in seine Entscheidung einbeziehen. Im vorliegenden Fall reichen die Gründe, die der Arbeitgeber vorgetragen hat und die unstreitig sind, aus, eine Ablehnung zu rechtfertigen. Die Klägerin war seit fünf Jahren arbeitsunfähig krank. Sie konnte offensichtlich nicht damit rechnen, in absehbarer Zeit wieder arbeitsfähig zu werden. Praktisch war die Arbeitnehmerin bereits aus dem Berufsleben ausgeschieden. Eine Vorruhestandsvereinbarung konnte weder dem Zweck des Tarifvertrages noch dem des Vorruhestandsgesetzes gerecht werden.
Die Klage konnte aus diesen Gründen keinen Erfolg haben. Sie war von Anfang an unbegründet.
Unterschriften
Dr. Heither, Schaub, Griebeling, Oberhofer, Dr. Jesse
Fundstellen