Entscheidungsstichwort (Thema)
Massenentlassungsanzeige. Vertrauensschutz
Leitsatz (redaktionell)
1. Entlassung i.S.d. § 17 Abs. 1 KSchG meint bei einer richtlinienkonformen Auslegung der kündigungsschutzrechtlichen Bestimmung den Ausspruch der Kündigung.
2. Eine nach Ausspruch der Kündigung erstattete Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit führt jedoch jedenfalls dann nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung, wenn sich der Arbeitgeber berechtigterweise auf den auch bei einer Änderung der Rechtsprechung zu beachtenden Vertrauensschutz berufen kann. Das Vertrauen in die bisherige gegenteilige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Auslegung des § 17 Abs. 1 S. 1 KSchG kann frühestens mit der Bekanntgabe der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 27.01.2005 entfallen sein.
Normenkette
KSchG § 17
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamburg vom 25. November 2005 – 6 Sa 82/05 – wird auf Kosten des Klägers zurückgewiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer betriebsbedingten ordentlichen Kündigung, in der Revision nur noch über § 17 KSchG und einen Weiterbeschäftigungsantrag des Klägers.
Der Kläger war seit 1993 bei der Beklagten, die eine Großbäckerei betrieb, als Produktionshelfer beschäftigt. Im August 2004 beschloss die Beklagte, die eigene Herstellung von Backwaren zum 1. April 2005 einzustellen. Sie kündigte das Arbeitsverhältnis des Klägers mit Schreiben vom 18. November 2004 zum 31. März 2005. Mit Schreiben vom 25. Januar 2005 erstattete die Beklagte bei der Bundesagentur für Arbeit gem. § 17 KSchG eine Massenentlassungsanzeige. Die Agentur hat mit Bescheid vom 15. Februar 2005 die angezeigte Entlassung von 16 Arbeitnehmern mit Ablauf des 31. März 2005 genehmigt.
Der Kläger hat Kündigungsschutzklage erhoben. Er hat insbesondere die Verletzung von § 17 KSchG gerügt. Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, sie habe die Anzeige ordnungsgemäß gem. § 17 KSchG erstattet. Jedenfalls genieße sie insoweit Vertrauensschutz.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Es hat offengelassen, ob §§ 17 f. KSchG eine Auslegung im Sinne der Entscheidung des EuGH zuließen. Die Beklagte genieße jedenfalls Vertrauensschutz.
Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seinen Antrag weiter. Er rügt Verletzung materiellen Rechts.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Die Kündigung ist entgegen der Auffassung der Revision nicht wegen Verstoßes gegen die Anzeigepflicht des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG rechtsunwirksam.
1. Die Beklagte war allerdings nach § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG verpflichtet, vor Ausspruch der Kündigung am 30. August 2004 die Massenentlassung bei der Agentur für Arbeit anzuzeigen, da die Kündigung Teil einer anzeigepflichtigen Massenentlassung iSd. § 17 KSchG war. Unter “Entlassung” iSv. § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG ist der Ausspruch der Kündigung des Arbeitsverhältnisses zu verstehen, wie der Senat in seiner Entscheidung vom 23. März 2006 (– 2 AZR 343/05 – AP KSchG 1969 § 17 Nr. 21 = EzA KSchG § 17 Nr. 16, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen) unter Aufgabe der früheren Rechtsprechung angenommen hat (bestätigt durch BAG 21. September 2006 – 2 AZR 801/05 –).
2. Dennoch ist die Kündigung nicht rechtsunwirksam. Dem steht der Grundsatz des Vertrauensschutzes entgegen. Der Senat hat die hierfür maßgeblichen Grundsätze bereits im Urteil vom 23. März 2006 (– 2 AZR 343/05 – AP KSchG 1969 § 17 Nr. 21 = EzA KSchG § 17 Nr. 16, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen) dargestellt.
a) Danach sind die Gerichte als Teil der Staatsgewalt an das Rechtsstaatsprinzip gebunden und müssen bei Änderung ihrer Rechtsprechung, nicht anders als der Gesetzgeber bei Gesetzesänderungen, den Grundsatz des Vertrauensschutzes beachten (BVerfG 14. Januar 1987 – 1 BvR 1052/79 – BVerfGE 74, 129, 154; BGH 18. Januar 1996 – IX ZR 69/95 – BGHZ 132, 6, 11; Löwisch FS Die Arbeitsgerichtsbarkeit 1994 S. 601, 610; Buchner Gedächtnisschrift R. Dietz 1973 S. 175). Vertrauensschutz bedeutet ua. Schutz vor Rückwirkung. Zwar erzeugen höchstrichterliche Entscheidungen keine dem Gesetzesrecht vergleichbaren Rechtsbindungen. Sie stellen lediglich die Rechtslage in einem konkreten Fall fest. Gleichwohl kann und darf ein Bürger auf die durch die höchstrichterliche Rechtsprechung konkretisierte Rechtslage und deren Bestand vertrauen. Er wird nicht unterscheiden müssen – und auch nicht können –, ob sich die Rechtslage direkt aus der Norm erschließt oder sich aus den Konkretisierungen der Rechtsprechung ergibt. Dennoch soll sich der Betroffene darauf verlassen dürfen, dass an einen abgeschlossenen Tatbestand nachträglich keine anderen – ungünstigeren – Voraussetzungen gestellt werden, als sie im Zeitpunkt der Vollendung des Sachverhalts gefordert wurden. Der Bürger darf erwarten und sich darauf verlassen, dass sein zum Zeitpunkt der Handhabung rechtlich gefordertes Verhalten von der Rechtsprechung nicht nachträglich als rechtswidrig oder nicht ausreichend qualifiziert wird (BVerfG 22. März 1983 – 2 BvR 475/78 – BVerfGE 63, 343, 357). Anders als in den Fällen, in denen es um die – bloße – rechtliche Beurteilung der Wirksamkeit eines Rechtsgeschäfts geht, liefe es in den Fällen, in denen ein Gestaltungsrecht bereits ausgeübt worden ist, auf eine unzulässige, im Ergebnis echte Rückwirkung hinaus, wenn eine Rechtsprechungsänderung voll durchschlüge. Deshalb darf nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts eine Rechtsprechungsänderung regelmäßig nicht dazu führen, einer Partei rückwirkend Handlungspflichten aufzuerlegen, die sie nachträglich nicht mehr erfüllen kann (29. März 1984 – 2 AZR 429/83 (A) – AP BetrVG 1972 § 102 Nr. 31; 18. Januar 2001 – 2 AZR 616/99 – AP LPVG Niedersachsen § 28 Nr. 1 = EzA BGB § 626 Krankheit Nr. 4; vgl. auch 21. Januar 1999 – 2 AZR 624/98 – AP KSchG 1969 § 1 Namensliste Nr. 3 = EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 39; Düwell Das reformierte Arbeitsrecht (2005) Kapitel 4 Abschnitt 4 Rn. 17; Medicus WM 1997, 2333, 2337).
Zwar wirkt die Änderung einer auch lange geltenden höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich zurück, soweit dem nicht der Grundsatz von Treu und Glauben entgegensteht. Eine über § 242 BGB hinausgehende Einschränkung der Rückwirkung höchstrichterlicher Rechtsprechung ist aber geboten, wenn die von der Rückwirkung betroffene Partei auf die Fortgeltung der bisherigen Rechtsprechung vertrauen durfte und die Anwendung der geänderten Auffassung wegen ihrer Rechtsfolgen im Streitfall oder der Wirkung auf andere vergleichbare Rechtsbeziehungen auch unter Berücksichtigung der berechtigten Interessen des Prozessgegners eine unzumutbare Härte bedeuten würde (vgl. BGH 29. Februar 1996 – IX ZR 153/95 – BGHZ 132, 119, 130; BAG 18. Januar 2001 – 2 AZR 616/99 – AP LPVG Niedersachsen § 28 Nr. 1 = EzA BGB § 626 Krankheit Nr. 4).
b) Eine solche Situation ist nach Auffassung des Senats gegeben.
aa) Für die Erstattung der Massenentlassungsanzeige hatte die ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts auf die “Entlassung” und damit auf den tatsächlichen Beendigungszeitpunkt als maßgeblichen Anknüpfungspunkt für die Anwendung des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG abgestellt. Der Senat hat diese Auffassung zuletzt noch einmal umfassend in seiner Entscheidung vom 18. September 2003 (– 2 AZR 79/02 – BAGE 107, 318) bestätigt. Bei Ausspruch der Kündigung war eine Rechtsprechungsänderung des Bundesarbeitsgerichts im Zuge der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und einer richtlinienkonformen Auslegung der nationalen gesetzlichen Regelungen nicht zu erwarten. Dies gilt umso mehr, als sich der Senat in der Entscheidung vom 18. September 2003 – 2 AZR 79/02 – aaO auch inhaltlich eingehend mit der MERL auseinander gesetzt und eine richtlinienkonforme Auslegung der §§ 17 ff. KSchG – das Verständnis von “Entlassung” als “Kündigung” im Sinne der nachfolgend ergangenen Entscheidung des EuGH vom 27. Januar 2005 (– C-188/03 – EuGHE I 2005, 885) unterstellend – als nicht möglich angesehen hatte.
bb) Auch die ganz herrschende Auffassung in der Literatur und in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung hatte sich dieser Auffassung des Bundesarbeitsgerichts angeschlossen. Hinzu kommt, dass die Agenturen für Arbeit ihre Verwaltungspraxis entsprechend gestaltet und eingerichtet hatten. Diesen Umständen kommt im Rahmen der Prüfung, ob dem betroffenen Arbeitgeber Vertrauensschutz zu gewähren ist, ein ganz erhebliches Gewicht zu. Der Arbeitgeber muss sich insbesondere auf eine Entscheidung der Arbeitsverwaltung verlassen und sein Verhalten daran ausrichten können (vgl. auch KR-Weigand 7. Aufl. § 17 KSchG Rn. 101; Mauthner Die Massenentlassungsrichtlinie der EG und ihre Bedeutung für das deutsche Massenentlassungsrecht 2004 S. 223 mwN; Kliemt FS 25 Jahre ARGE Arbeitsrecht S. 1237, 1250).
Die Beklagte konnte deshalb darauf vertrauen, richtig verfahren zu sein, wenn sie die Anzeige nicht bereits vor Ausspruch der Kündigung erstattete.
cc) Dieses Vertrauen ist auch nicht durch relevante Aspekte vor dem Zugang der streitgegenständlichen Kündigung beseitigt worden. Das Vertrauen in die bisherige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Auslegung des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG kann frühestens mit der Bekanntgabe der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 27. Januar 2005 entfallen sein (Senat 23. März 2006 – 2 AZR 343/05 – AP KSchG 1969 § 17 Nr. 21 = EzA KSchG § 17 Nr. 16, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen; siehe auch BAG 13. Juli 2006 – 6 AZR 198/06 –).
(1) Zunächst bleibt festzuhalten, dass der Europäische Gerichtshof zur Auslegung der MERL und der hier maßgeblichen Frage vor der Entscheidung “Junk” am 27. Januar 2005 inhaltlich nicht judiziert und der Senat – wie dargestellt – vielmehr dem Begriff der Entlassung auch in Anbetracht der MERL eine andere Bedeutung beigemessen hatte.
(2) Der Vorlagebeschluss des Arbeitsgerichts Berlin vom 30. April 2003 (– 36 Ca 19726/02 – ZIP 2003, 1265) und die Thesen von Hinrichs in ihrer im Jahr 2001 erschienenen Dissertation “Kündigungsschutz und Arbeitnehmerbeteiligung bei Massenentlassung” konnten das Vertrauen in die bisherige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nicht relevant erschüttern. Es kann dahingestellt bleiben, wann dieser Vorlagebeschluss allgemein bekannt geworden war. Jedenfalls brauchte sich die Beklagte durch die Entscheidung eines einzelnen Arbeitsgerichts und vereinzelte Literaturstimmen noch nicht in ihrem Vertrauen auf die Maßgeblichkeit einer bisher gefestigten ständigen Rechtsprechung und Verwaltungspraxis irritieren zu lassen. Dies gilt umso mehr, als der Senat noch in der Entscheidung vom 18. September 2003 (– 2 AZR 79/02 – BAGE 107, 318) differenziert zu der Thematik Stellung genommen hatte.
(3) Schließlich konnte das Vertrauen in die bisherige Rechtslage auch nicht durch die Schlussanträge des Generalanwalts Tizzano vom 30. September 2004 (vgl. ZIP 2004, 2019) erschüttert werden.
dd) Das Vertrauen der Beklagten ist schutzwürdig. Dem vorgehende schutzwürdige Interessen des Klägers sind nicht beeinträchtigt.
Es würde deshalb eine unzumutbare Härte für die Beklagte bedeuten, wenn allein wegen des durch die Rechtsprechungsänderung entstandenen formellen Fehlers, der für die Beklagte nicht absehbar war, die Kündigung unwirksam wäre. Zum Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs wurde eine entsprechende Anzeigepflicht weder von der ständigen Verwaltungspraxis noch von der Rechtsprechung gefordert. Durch eine entsprechende Unwirksamkeit der Kündigung könnten nicht nur in zahlreichen Altfällen erhebliche finanzielle Nachteile entstehen. Auch dem mit der Anzeigepflicht verbundenen Zweck der MERL wäre nicht besser gedient. Die Anzeigepflicht bezweckt nach wie vor nicht primär einen Schutz der Arbeitnehmer vor Entlassung, sondern dient dem Ziel einer effektiven Verwaltung der Massenentlassung und -arbeitslosigkeit und damit vor allem arbeitsmarktpolitischen Zwecken. Dementsprechend werden auch keine relevanten individual-rechtlich geschützten Interessen des Klägers betroffen. Dies gilt selbst dann, wenn man berücksichtigt, dass der Kläger einen Anspruch auf ein nach materiellem Recht richtiges Urteil hat (Medicus WM 1997, 2333, 2337). Eine Partei, die das Recht auf ihrer Seite hat, muss allerdings ein ihr ungünstiges Urteil ausnahmsweise hinnehmen, wenn dies der Vertrauensschutz für den Prozessgegner gebietet. Dies ist anzunehmen, wenn nunmehr eine Handlung als fehler- oder schuldhaft qualifiziert wird, die zur Zeit ihrer Vornahme der damals herrschenden Rechtsüberzeugung entsprach (Medicus NJW 1995, 2577, 2580; ders. WM 1997, 2333, 2337).
Betrachtet man diese Aspekte und wägt sie gegeneinander ab, so ist im Hinblick auf das Vertrauen der Beklagten einerseits und unter Berücksichtigung der Interessen des Klägers andererseits eine unzumutbare Härte anzuerkennen.
c) Dem Senat ist die Entscheidung über den Vertrauensschutz auch nicht “entzogen”.
Der Senat war insbesondere nicht zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof verpflichtet (so Schiek AuR 2006, 41, 43 f.). Er hat lediglich seine eigene Rechtsprechung und die Auslegung der nationalen Regelungen des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG an das Gemeinschaftsrecht angepasst. Er hat kein Gemeinschaftsrecht ausgelegt, sondern das nationale Kündigungsschutzrecht “richtlinienkonform” angewendet, indem er den Begriff der “Entlassung” in § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG zukünftig im Sinne der vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Auslegung der Richtlinie verstanden wissen will. Damit handelt es sich um eine Frage der nationalen Rechtsanwendung (vgl. Canaris FS Bydlinski S. 47, 64; Piekenbrock ZZP 2006, 3, 30).
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 ZPO.
Unterschriften
Rost, Bröhl, Schmitz-Scholemann, Nielebock, Bartz
Fundstellen