Entscheidungsstichwort (Thema)
Beihilfeanspruch. Fürsorgepflicht
Normenkette
BGB § 242; BBG § 79
Verfahrensgang
LAG Köln (Urteil vom 08.03.1994; Aktenzeichen 1 Sa 1296/93) |
ArbG Köln (Urteil vom 06.07.1993; Aktenzeichen 16 Ca 10270/92) |
Tenor
1. Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Köln vom 8. März 1994 – 1 Sa 1296/93 – wird zurückgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über einen Beihilfeanspruch der Klägerin für die Unterbringung ihrer volljährigen behinderten Tochter in einem Wohnheim für geistig Behinderte.
Die Klägerin war bis zu ihrer Verrentung am 1. Mai 1991 als Zustellerin bei der Beklagten beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis fand der Tarifvertrag Nr. 163 vom 6. März 1961 über die Gewährung von Beihilfen in Krankheits-, Geburts- und Todesfällen an Arbeiter und Lehrlinge der Deutschen Bundespost (TV Nr. 163) Anwendung. § 1 des Tarifvertrages lautet:
„§ 1
Für die Gewährung von Beihilfen in Krankheits-, Geburts- und Todesfällen werden die für die Beamten der Deutschen Bundespost jeweils geltenden Beihilfevorschriften (BhV) sinngemäß angewendet, soweit nachstehend nichts anderes bestimmt ist.”
In der allgemeinen Verwaltungsvorschrift über die Gewährung von Beihilfen in Krankheits-, Geburts- und Todesfällen (Beihilfevorschriften – BhV –) vom 19. April 1985 ist u.a. bestimmt:
„§ 9
Beihilfefähige Aufwendungen bei dauernder Anstaltsunterbringung
Aus Anlaß einer wegen Pflegebedürftigkeit notwendigen dauernden Unterbringung körperlich oder geistig Kranker in Kranken-, Heil- oder Pflegeanstalten sowie Pflegeheimen sind neben anderen beihilfefähigen Aufwendungen abweichend von § 6 Abs. 1 Nr. 6 die Kosten für Unterkunft und Verpflegung bis zum niedrigsten Satz in den für die Unterbringung in Betracht kommenden öffentlichen oder freien gemeinnützigen Anstalten oder Pflegeheimen am Ort der Unterbringung oder in seiner nächsten Umgebung insoweit beihilfefähig, als sie monatlich folgende Beträge übersteigen:
…”
Die inzwischen 35 Jahre alte Tochter der Klägerin ist seit dem 5. April 1988 ununterbrochen in dem Wohnheim der Lebenshilfe für geistig Behinderte B e.V. „I-Haus” untergebracht. Dazu stellte ein amtsärztliches Attest vom 16. Mai 1988 folgendes fest:
„Die Obengenannte wurde hier am 16.5.1988 untersucht. Es liegt bei ihr eine geistige Behinderung im Sinne einer ausgeprägten Debilität vermutlich bei frühkindlicher Hirnschädigung vor. Gleichzeitig besteht ein Minderwuchs, dessen Ursache mangels fremdanamnestischer Angaben nicht zu klären ist (Hormonelle Dysfunktion?). Die Voraussetzungen des § 39 ff BSHG sind m.E. sicher gegeben. Die Unterbringung im Behindertenheim ist erforderlich, um der Patientin eine gewisse Selbständigkeit zu vermitteln. Hierzu war das Elternhaus nicht mehr in der Lage.”
In einem weiteren amtsärztlichen Attest vom 13. November 1992 wurde u.a. folgendes bescheinigt:
„Frau D. ist nicht in der Lage, auf sich allein gestellt zu existieren. Die Unterbringung im Wohnheim der Lebenshilfe ist weiterhin unbedingt notwendig (§ 39 ff BSHG). Dahingegen kann eine Pflegebedürftigkeit nicht bestätigt werden. Frau D. wird in der Gärtnerei beschäftigt. Sie hat freien Ausgang. Ein Pflegeaufwand besteht nicht. Therapeutische Maßnahmen werden nicht durchgeführt.”
In einem Entwicklungsbericht der Betreuer des Wohnheims vom 26. November 1992 heißt es über die Tochter der Klägerin:
„Fr. D. ist in der Lage, sich an Uhrzeiten zu orientieren und ihr Handeln hieran auszurichten. Auch für die örtliche Orientierung und das Verhalten im Verkehr ist zu sagen, daß sie sich recht sicher und vorausschauend verhält. So ist sie in der Lage, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur WfB zu fahren.
Beim Umgang mit Geld sind ihr zwar die geläufigen Zahlungsmittel bekannt. Sie ist jedoch nicht im Stande, den jeweiligen Warenäquivalent zuzuordnen. Ebenso ist es ihr nur schwer möglich, Geld einzuteilen oder für bestimmte Sachen anzusparen.
Fr. D. ist in der Lage, einfache Texte zu lesen und zu schreiben. Bei der Selbstversorgung und Körperhygiene ist es immer wieder erforderlich, daß eine nachgehende Kontrolle stattfindet. Dies gilt auch im besonderen für ihr Ordnungsverhalten. Hier versucht sie oft mit Ausreden, um die notwendigen „Aufräumungsarbeiten” in ihrem Zimmer herumzukommen.
(…)
Fr. D. ist sehr auf Bezugspersonen angewiesen mit diesen ihr vertrauten Personen gelingt es ihr, ihr Verhalten zu reflektieren.
(…)
Auch in dem hier berücksichtigten Berichtsraum bleibt zu sagen, daß Fr. Dorff immer wieder auf Betreuung angewiesen ist, die ihr Verhalten korrigiert und richtungsweisend eingreift.
(…)
Der schon oben angedeutete Interessenkonflikt von Fr. D. zwischen Wohngruppe und Partnerschaft zwingt die Betreuer immer wieder, sie an die alltäglichen Pflichten zu erinnern. Das ist besonders wichtig, da Fr. D. ansonsten Tendenzen zur Verwahrlosung entwickelt. Dies würde für ihr Zimmer als auch für ihre eigene Körperhygiene gelten.”
Die Kosten dieser Unterbringung wurden von Beginn an im Rahmen der Eingliederungshilfe gemäß § 27 Abs. 1 Nr. 6, §§ 39 ff. BSHG vom Landschaftsverband Rheinland getragen. Mit Schreiben vom 12. September 1988 leitete der Landschaftsverband Rheinland den Unterhaltsanspruch der Tochter gegenüber der Klägerin in Höhe des der Klägerin zustehenden Beihilfeanspruchs auf sich über. Gleichzeitig forderte der Landschaftsverband Rheinland die Klägerin auf, zu den Kosten der Betreuung ihrer Tochter in dem Wohnheim der Lebenshilfe bei ihrem Arbeitgeber eine Beihilfe zu beantragen. Für die Zeit vom 5. April 1988 bis zum 30. April 1991 stellte der Landschaftsverband Rheinland der Klägerin Pflegekosten in Höhe von 88.891,51 DM sowie Werkstattkosten in Höhe von 46.448,31 DM in Rechnung. Unter Berücksichtigung eines Beihilfesatzes von 80 % forderte die Klägerin deshalb von der Beklagten Beihilfe in Höhe von 102.373,20 DM, auf die die Beklagte 12.548,00 DM zahlte, so daß ein Restbetrag in Höhe von 89.825,20 DM verbleibt.
Die Klägerin hat die Ansicht vertreten, ihr stehe gemäß § 9 Abs. 1 BhV wegen Pflegebedürftigkeit ihrer Tochter ein Beihilfeanspruch für durch die Unterbringung in dem I.-Haus entstehende Kosten zu, weil ihre Tochter nicht zu einem selbständigen Leben in der Lage sei. Beihilfe sei zu den Kosten der dauernden Unterbringung körperlich oder geistig unheilbarer Kranker zu gewähren. Darauf, ob bestimmte pflegerische Maßnahmen wie z.B. Grund- oder Behandlungspflege durchgeführt würden, komme es nicht an. Es verstoße gegen die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers, bei dauernder Unterbringung von Behinderten keine Beihilfe zu gewähren.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an sie 89.825,20 DM nebst 8 % Zinsen seit Klagezustellung zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat die Auffassung vertreten, die Tochter der Klägerin sei nicht pflegebedürftig.
Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben die Klage abgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter. Die Beklagte bittet um Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
Die Revision hat keinen Erfolg. Zu Recht hat das Landesarbeitsgericht die Berufung gegen das klageabweisende Urteil des Arbeitsgerichts zurückgewiesen.
I. Das Landesarbeitsgericht hat einen Beihilfeanspruch der Klägerin für eine dauernde Anstaltsunterbringung ihrer Tochter verneint, weil die Tochter nicht pflegebedürftig im Sinne des § 9 BhV i.V.m. den Hinweisen des BMI sei. Sie bedürfe unstreitig weder der „Behandlungspflege” noch der „Grundpflege”. Sie sei auch nicht hilflos, weil sie sich an Uhrzeiten orientieren, öffentliche Verkehrsmittel benutzen, einfache Texte lesen und täglich arbeiten könne. Daß die Tochter der Klägerin einer nachgehenden Kontrolle bedürfe, beruhe auf einer Schwäche im Umgang mit Geld und vor allem bei der Hygiene und dem Ordnungsverhalten. Diese sektoralen Defizite machten sonstige Hilfeleistungen oder psychische und soziale Betreuung im Sinne der Hinweise erforderlich, führten aber nicht zur umfassenden Hilflosigkeit mit ständiger Aufsicht.
Die Ausführungen des Landesarbeitsgerichts sind jedenfalls im Ergebnis nicht zu beanstanden.
II. Die Klägerin hat gemäß § 1 TV Nr. 163 i.V.m. § 9 Abs. 1 BhV keinen Beihilfeanspruch.
1. Nach § 1 TV Nr. 163 werden für die Gewährung von Beihilfen in Krankheits-, Geburts- und Todesfällen die für die Beamten der Deutschen Bundespost jeweils geltenden Beihilfevorschriften (BhV) sinngemäß angewendet. Gemäß § 9 Abs. 1 BhV besteht ein Beihilfeanspruch bei dauernder Anstaltsunterbringung aus Anlaß einer wegen Pflegebedürftigkeit notwendigen dauernden Unterbringung körperlich oder geistig Kranker in Kranken-, Heil- oder Pflegeanstalten sowie Pflegeheimen. Damit setzt diese Vorschrift Pflegebedürftigkeit voraus. Der Begriff der Pflegebedürftigkeit ist in den Beihilfevorschriften nicht ausdrücklich geregelt. Er ergibt sich deshalb aus den Hinweisen des BMI. Die Hinweise des BMI zu den Beihilfevorschriften finden auch auf den tarifrechtlichen Beihilfeanspruch Anwendung und sind bei seiner inhaltlichen Bestimmung zu berücksichtigen (vgl. Senatsurteile vom 2. April 1992 – 6 AZR 493/90 – AP Nr. 6 zu § 40 BAT und vom 9. Oktober 1991 – 6 AZR 340/89 –, n.v.).
2. In dem für den Behilfeanspruch maßgeblichen Zeitpunkt der Unterbringung der Tochter der Klägerin vom 5. April 1988 bis zum 30. April 1991 lautete der Hinweis des BMI u.a. wie folgt:
„Pflegebedürftig ist, wer infolge Krankheit, Behinderung oder Schädigung so hilflos ist, daß er nicht ohne betreuende Pflege bleiben kann. Pflegebedürftigkeit ist nicht bei einem Zustand anzunehmen, der allein durch eine allgemeine Verminderung der körperlichen und geistigen Kräfte eingetreten ist und von dem für das Lebensalter typischen Zustand nicht wesentlich abweicht. Unter Pflege sind nur personenbezogene Verrichtungen zu verstehen, z.B. medizinische Hilfeleistungen, das Betten und Lagern, Hilfe beim An- und Auskleiden. Eine Pflege liegt somit nicht vor, wenn lediglich sonstige Hilfeleistungen, wie vor allem hauswirtschaftliche Arbeiten, erbracht werden müssen.”
Daraus ergibt sich, daß unter Pflege im Sinne des § 9 Abs. 1 BhV sind nur personenbezogene Verrichtungen zu verstehen sind, z.B. medizinische Hilfeleistungen, das Betten und Lagern, Hilfe beim An- und Auskleiden. Keine Pflege liegt somit vor, wenn lediglich sonstige Hilfeleistungen, wie vor allem hauswirtschaftliche Arbeiten erbracht werden müssen. Pflegebedürftig im Sinne dieser Vorschrift ist, wer so hilflos ist, daß er nicht ohne betreuende Pflege bleiben kann.
a) Das Landesarbeitsgericht hat seiner Entscheidung diesen Begriff der Pflegebedürftigkeit zugrunde gelegt und aufgrund seiner für das Revisionsgericht bindenden Feststellungen zu Recht angenommen, daß die Tochter der Klägerin keine Pflege erhält, weil bei ihr weder medizinische noch personenbezogene Hilfeleistungen i.S., von An- und Auskleiden bzw. Betten und Lagern vorgenommen werden Entgegen der Auffassung der Revision enthält der Hinweis des BMI keinen Anhaltspunkt dafür, daß bereits die psychische und soziale Betreuung, die der Tochter der Klägerin zuteil wird, den Begriff der Pflege erfüllt. Das Landesarbeitsgericht hat auch rechtlich zutreffend die Hilflosigkeit und damit die Pflegebedürftigkeit der Tochter der Klägerin verneint, weil sie sich an Uhrzeiten orientiere, öffentliche Verkehrsmittel benutzen, einfache Texte lesen und täglich arbeiten könne.
b) Zu Unrecht meint die Revision, das Landesarbeitsgericht habe wesentliche Umstände, die sich aus Teilen des Entwicklungsberichts vom 26. November 1992 ergeben, unberücksichtigt gelassen. Das Landesarbeitsgericht hat den Inhalt dieses Berichts ausdrücklich und umfassend in seine Entscheidung mit einbezogen. B. hat darauf abgestellt, daß es der Tochter schwerfällt, Geld einzuteilen und dem Geld das Warenäquivalent zuzuordnen, und daß eine Kontrolle der Körperhygiene und des Ordnungsverhaltens erforderlich sei. Dieser Sachverhalt und die Gefahr, daß die Tochter der Klägerin ohne Aufsicht verwahrlosen könnte, belegen jedoch nicht, daß personenbezogene Verrichtungen erforderlich sind, wie sie der Begriff der „betreuenden Pflege” im Sinne der Hinweise des BMI erfordert.
III. Entgegen der Auffassung der Revision kann der streitgegenständliche Beihilfeanspruch nicht unmittelbar aus der Fürsorgepflicht hergeleitet werden.
Soweit die Fürsorgepflicht (§ 242 BGB) durch Beihilfevorschriften konkretisiert wird, richtet sich der Beihilfeanspruch allein nach diesen Vorschriften, auch soweit sie für bestimmte Aufwendungen die Gewährung einer Beihilfe beschränken oder ausschließen (vgl. BAG Urteil vom 5. November 1992 – 6 AZR 311/91 – AP Nr. 7 zu § 40 BAT, zu II 2 d der Gründe, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen).
Auch auf eine weitergehende Fürsorgepflicht der Beklagten nach Beamtenrecht (§ 79 BBG; vgl. BVerwGE 60, 212, 220; 64, 333, 343 und 79, 249), kann die Klägerin sich nicht berufen. Nach § 1 TV Nr. 163 sind die beamtenrechtlichen Beihilfevorschriften auf das Arbeitsverhältnis der Klägerin sinngemäß anzuwenden. Damit nimmt der TV Nr. 163 auf ein bestimmtes Regelungswerk Bezug. Anders als in der Entscheidung des Senats vom 4. August 1988 (– 6 AZR 10/86 – BAGE 59, 188 = AP Nr. 3 zu § 40 BAT) haben die Tarifparteien keine Regelung getroffen, die besagt, daß „Beihilfen in entsprechender Anwendung der für Beamte geltenden Bestimmungen” gewährt werden. Eine Erweiterung der Ansprüche der Klägerin entsprechend § 79 BBG über die in den Beihilfevorschriften vorgesehenen Leistungen hinaus kommt somit nicht in Betracht.
IV. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Unterschriften
Dr. Peifer, Dr. Jobs, Dr. Armbrüster, Spiegelhalter, Elias
Fundstellen