Entscheidungsstichwort (Thema)
13. Monatseinkommen und dauernde Arbeitsunfähigkeit
Leitsatz (redaktionell)
Hinweise des Senats:
Bestätigung des Urteils des Zehnten Senats vom 5. August 1992 – 10 AZR 08/90 –
Normenkette
BGB § 611
Verfahrensgang
LAG Köln (Urteil vom 21.09.1990; Aktenzeichen 12 Sa 619/90) |
ArbG Köln (Urteil vom 03.05.1990; Aktenzeichen 14 Ca 748/90) |
Tenor
Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Köln vom 21. September 1990 – 12 Sa 619/90 – aufgehoben.
Auf die Berufung der Kläger wird das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 3. Mai 1990 – 14 Ca 748/90 – abgeändert:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Kläger 2.968,68 DM brutto nebst 4 % Zinsen aus dem sich hieraus ergebenden Nettobetrag seit dem 20. Dezember 1989 zu zahlen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Zahlung eines 13. Monatseinkommens für das Jahr 1989 nach dem Rahmentarifvertrag für das Gerüstbaugewerbe vom 11. Mai 1987 (im folgenden RTV).
Die jetzigen Kläger sind als Ehefrau und Sohn die Erben des am 9. Mai 1992 verstorbenen Herrn G R. Sie führen den Rechtsstreit nach dem Tod ihres Ehemanns bzw. Vaters fort. Der Verstorbene war zumindest seit 1985 als Gerüstbaumonteur bei der Beklagten, einer Gerüstbaufirma, beschäftigt; sein Stundenlohn betrug zuletzt 17,16 DM brutto. Seit 13. Dezember 1988 und auch während des gesamten Jahres 1989 war er arbeitsunfähig krank; das Arbeitsverhältnis endete durch ordentliche Kündigung des Verstorbenen vom 18. Juli 1990 zum 31. Juli 1990.
Mit Schreiben vom 15. Dezember 1989 verlangte er von der Beklagten die Zahlung des 13. Monatseinkommens nach § 11 des auf das Arbeitsverhältnis der Parteien kraft Allgemeinverbindlicherklärung anwendbaren RTV. In § 11 des RTV ist folgendes bestimmt:
„§ 11
13. Monatseinkommen
1. Anspruch auf 124 Tarifstundenlöhne
Der Arbeitnehmer hat nach 12monatiger ununterbrochener Beschäftigung im gleichen Betrieb jeweils am 30. November gegen den Arbeitgeber einen Anspruch auf Zahlung von 124 Tarifstundenlöhnen.
2. Anspruch auf 173 Tarifstundenlöhne
Arbeitnehmer, die am 30. November eine ununterbrochene Beschäftigung im gleichen Betrieb von drei Jahren oder ersatzweise im Gerüstbaugewerbe von sechs Jahren nachweisen können, haben jeweils einen Anspruch auf Zahlung von 173 Tarifstundenlöhnen.
3. Teilansprüche
3.1 Arbeitnehmer, die am 30. November eine ununterbrochene Beschäftigung im gleichen Betrieb von mehr als drei Monaten nachweisen können, haben für jeden vollen Monat ihrer Beschäftigung Anspruch auf jeweils 1/12 der in Ziffer 1 oder 2 genannten Beträge.
3.2 Endet das Arbeitsverhältnis durch ordentliche Kündigung des Arbeitgebers oder wegen Erreichens der gesetzlichen Altersgrenze vor dem 20. November, so hat der Arbeitnehmer für jeden vollen Monat, den er seit dem 1. Dezember des Vorjahres ununterbrochen im Betrieb beschäftigt war, Anspruch auf 1/12 des in Ziffer 1 oder 2 genannten Betrages, wenn sein Arbeitsverhältnis zum Betrieb im Zeitpunkt des Ausscheidens bereits ununterbrochen drei Monate bestanden hat. In diesem Fall richtet sich der Anspruch auf Zahlung des Betrages gegen den Arbeitgeber, der die Kündigung ausgesprochen hat.
4. Beendigung des Arbeitsverhältnisses zwischen dem 20. und 30. November
Die unter Ziffern 1, 2 und 3.1 genannte Voraussetzung gilt als erfüllt, wenn das Arbeitsverhältnis in der Zeit vom 20. bis zum 30. November durch eine ordentliche Kündigung des Arbeitgebers oder wegen Erreichens der gesetzlichen Altersgrenze beendet worden ist.
5. Unterbrechung des Arbeitsverhältnisses
Die Betriebszugehörigkeit und die Gewerbezugehörigkeit nach Ziffern 1 und 2 gelten als nicht unterbrochen, wenn die Unterbrechung des Arbeitsverhältnisses nicht vom Arbeitnehmer veranlaßt wurde und wenn sie nicht länger als sechs Monate gedauert hat.
6. Fälligkeit
Der Betrag ist zusammen mit dem Lohn für den Monat November, frühestens jedoch am 1. Dezember auszuzahlen; der Betrag nach Ziffer 3.2 ist mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses fällig.
7. Teilzeitarbeit
Ist die vereinbarte Arbeitszeit geringer als die tarifliche, so mindert sich der Anspruch im Verhältnis der vereinbarten wöchentlichen Arbeitszeit zur tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit.
8. Wehrpflicht
Arbeitnehmer, die am 30. November Grundwehr- oder Ersatzdienst leisten, haben keinen Anspruch.
9. Anrechenbarkeit
Das tarifliche 13. Monatseinkommen kann auf betrieblich gewährtes Weihnachtsgeld, 13. Monatseinkommen oder Zulagen, die diesen Charakter haben, angerechnet werden.”
Die Beklagte lehnte die Zahlung des 13. Monatseinkommens mit Schreiben vom 20. Dezember 1989 ab.
Der Verstorbene erhob daraufhin am 7. Februar 1990 Klage.
Die Kläger sind der Auffassung, der Anspruch auf Zahlung des 13. Monatseinkommens stehe ihnen trotz der Arbeitsunfähigkeit des Verstorbenen ab 13. Dezember 1988 und während des gesamten Jahres 1989 in Höhe von 173 Tarifstundenlöhnen nach § 11 Ziffer 2 RTV zu, da die Zahlung des 13. Monatseinkommens nicht von einer Arbeitsleistung abhängig sei und nur an die Voraussetzung der ununterbrochenen Betriebszugehörigkeit bis zum 30. November des entsprechenden Jahres anknüpfe. Im übrigen habe der Verstorbene vom 1. Dezember 1988 bis 30. November 1989 noch fast zwei Kalenderwochen gearbeitet; eine solche Arbeitsleistung sei nicht ganz unerheblich.
Die Kläger haben beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an sie 2.968,68 DM brutto nebst 4 % Zinsen aus dem sich hieraus ergebenden Nettobetrag seit dem 20. Dezember 1989 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte ist der Ansicht, das 13. Monatseinkommen stelle eine Gratifikation für geleistete Arbeit dar; neben der ununterbrochenen Betriebszugehörigkeit müsse auch eine Arbeitsleistung erbracht worden sein. Den Klägern stehe ein Anspruch auf Zahlung eines 13. Monatseinkommens für 1989 nicht zu, da der Ehemann bzw. Vater der Kläger im gesamten Bezugszeitraum krankgeschrieben gewesen sei und demzufolge nicht gearbeitet habe.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Rechtsvorgängers der Kläger zurückgewiesen. Mit der zugelassenen Revision verfolgen die Kläger den Zahlungsanspruch weiter, während die Beklagte um Zurückweisung der Revision bittet.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des berufungsgerichtlichen Urteils und zur Abänderung des erstinstanzlichen Urteils dahin, daß die Beklagte antragsgemäß auf Zahlung eines 13. Monatseinkommens in Höhe von 2.968,68 DM brutto verurteilt wird.
I. Das Landesarbeitsgericht hat seine klageabweisende Entscheidung damit begründet, dem Ehemann und Vater der Kläger stehe ein Anspruch auf Zahlung eines 13. Monatseinkommens für das Jahr 1989 nach § 11 RTV nicht zu, weil dieser im Bezugszeitraum vom 1. Dezember 1988 bis 30. November 1989 keine oder nur eine unwesentliche Arbeitsleistung erbracht habe. Aus der Auslegung des § 11 RTV ergebe sich, daß es für die Begründetheit des Anspruchs auf das 13. Monatseinkommen neben der Betriebszugehörigkeit entscheidend auf die erbrachte Arbeitsleistung ankomme.
II. Diesen Ausführungen vermag der Senat nicht zu folgen.
Dem Ehemann und Vater der Kläger steht für den Bezugszeitraum vom 1. Dezember 1988 bis 30. November 1989 ein tarifvertragliches 13. Monatseinkommen in Höhe von 173 Tarifstundenlöhnen 17,16 DM brutto, also 2.968,68 DM brutto, gemäß § 11 Ziffer 2 RTV zu, da er die in § 11 Ziffer 2 RTV aufgestellten Voraussetzungen erfüllt: Er stand am 30. November 1989 ununterbrochen mehr als drei Jahre im Arbeitsverhältnis zu der Beklagten.
Die ununterbrochene Arbeitsunfähigkeit des Verstorbenen seit dem 13. Dezember 1988 und während des gesamten Jahres 1989 steht dem Anspruch auf Zahlung des 13. Monatseinkommens nicht entgegen: § 11 des RTV verlangt entgegen den Entscheidungen der Vorinstanzen und der Auffassung der Beklagten eine Arbeitsleistung des anspruchsberechtigten Arbeitnehmers nicht.
Das ergibt sich aus der Auslegung des RTV: Bei der Auslegung von Tarifverträgen ist – entsprechend den Grundsätzen der Gesetzesauslegung – zunächst von dem Tarifwortlaut auszugehen. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften (§ 133 BGB). Dabei ist über den reinen Tarifwortlaut hinaus der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und der damit von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm mitzuberücksichtigen, sofern und soweit sie in der tariflichen Norm ihren Niederschlag gefunden haben. Hierzu ist auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang abzustellen, der häufig schon deswegen mitberücksichtigt werden muß, weil nur daraus und nicht aus der einzelnen Tarifnorm auf den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien geschlossen und so nur bei Mitberücksichtigung des tariflichen Gesamtzusammenhanges der Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann. Verbleiben bei entsprechender Auswertung des Tarifwortlauts und des tariflichen Gesamtzusammenhanges als den stets und in erster Linie heranzuziehenden Auslegungskriterien im Einzelfall noch Zweifel, so kann zur Ermittlung des wirklichen Willens der Tarifvertragsparteien auch auf weitere Kriterien wie die Tarifgeschichte, die praktische Tarifübung und die Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrags zurückgegriffen werden, wobei es für die Gerichte eine Bindung an eine bestimmte Reihenfolge bei der Heranziehung dieser weiteren Auslegungsmittel nicht gibt (BAGE 46, 308, 313 ff. = AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung). Auch ist die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse zu berücksichtigen; dabei gebührt im Zweifel derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Lösung führt (BAGE 60, 219, 224 = AP Nr. 127 zu § 611 Gratifikation, zu II 1 a der Gründe, m.w.N.).
Die Auslegung des RTV nach diesen Grundsätzen ergibt, daß dem 13. Monatseinkommen nach dem RTV Mischcharakter zukommt, weil sowohl erwiesene Betriebstreue belohnt als auch die Entlohnung im Bezugszeitraum geleisteter Arbeit bezweckt wird. Der Zweck der Belohnung erwiesener Betriebstreue folgt insbesondere aus Ziffern 1 und 2 des § 11, die (Ziffer 1) eine zwölfmonatige ununterbrochene Beschäftigung im gleichen Betrieb bzw. (Ziffer 2) eine ununterbrochene Beschäftigung im gleichen Betrieb von drei Jahren oder ersatzweise im Gerüstbaugewerbe von sechs Jahren jeweils am 30. November des entsprechenden Jahres voraussetzen und die Höhe des 13. Monatseinkommens hiernach staffeln. Auch Ziffer 4 (Beendigung des Arbeitsverhältnisses zwischen dem 20. und 30. November) und Ziffer 5 (Unterbrechung des Arbeitsverhältnisses) des § 11 RTV sprechen für den Belohnungscharakter. Der Zweck der Entlohnung geleisteter Arbeit ergibt sich aus Ziffer 3, der Teilansprüche für im Laufe des Bezugszeitraums eintretende oder ausscheidende Arbeitnehmer regelt, Ziffer 7 bezüglich der Teilzeitbeschäftigten und Ziffer 8, wonach Arbeitnehmer, die am 30. November Grundwehr- oder Ersatzdienst leisten, keinen Anspruch haben. Ebenso spricht die Bezeichnung der Sonderzahlung nach § 11 RTV als „13. Monatseinkommen” für den Entgeltcharakter.
Eine ausdrückliche Regelung, daß der Anspruch auf das 13. Monatseinkommen entfallen soll, wenn der Arbeitnehmer keine oder nur eine unerhebliche Arbeitsleistung infolge krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit während des gesamten Bezugszeitraums erbringt, enthält der RTV nicht. Die Tarifvertragsparteien haben in § 11 Ziffer 8 RTV als Zeiten ohne Arbeitsleistung lediglich die Fälle von Grundwehr- oder Ersatzdienst am 30. November als anspruchsausschließend geregelt. Damit sind – im Gegensatz zu den Fällen des Grundwehr- und Ersatzdienstes – Arbeitnehmer, die während des gesamten Bezugszeitraums oder erheblichen Teilen des Bezugszeitraums infolge Arbeitsunfähigkeit keine Arbeitsleistung erbringen, nicht von dem Anspruch auf Zahlung eines 13. Monatseinkommens ausgenommen; der Anspruch bleibt daher bestehen.
Wie der erkennende Senat bereits mit Urteil vom 5. August 1992 (– 10 AZR 88/90 – zur Veröffentlichung vorgesehen) entschieden hat, ist der früheren Rechtsprechung, die in Fällen von Sonderzahlungen mit Mischcharakter bei Fehlen einer ausdrücklichen Regelung eine nicht unerhebliche Arbeitsleistung von in der Regel zwei Wochen verlangt hat, nicht zu folgen. Wenn es an einer ausdrücklichen Regelung für Zeiten der Arbeitsunfähigkeit fehlt, kann der Anspruch des Arbeitnehmers nicht allein mit der Überlegung, eine tarifliche Sonderzahlung werde auch mit Rücksicht auf die für den Betrieb erbrachte Arbeitsleistung gewährt, in den Fällen verneint werden, in denen der Arbeitnehmer nicht einmal eine nicht ganz unerhebliche Arbeitsleistung von in der Regel zwei Wochen erbracht hat. Ein allgemeines Rechtsprinzip, daß der Anspruch entfällt, wenn während des Bezugszeitraums überhaupt keine oder keine nennenswerte Arbeitsleistung erbracht wird, gibt es nicht. Es steht den Tarifvertragsparteien jedoch frei – wie es hier für Grundwehr- und Ersatzdienstleistende geregelt ist – zu bestimmen, ob und welche Zeiten ohne tatsächliche Arbeitsleistung den Anspruch auf die Sonderzahlung ausschließen oder mindern.
Da vorliegend der RTV für Zeiten der Arbeitsunfähigkeit während des Bezugszeitraums keine anspruchsausschließende Regelung enthält, können die Kläger als Erben des verstorbenen Arbeitnehmers (§ 1922 BGB) die Zahlung des auf sie übergegangenen Anspruchs auf das 13. Monatseinkommen nach § 11 Ziffer 2 RTV in Höhe von 2.968,68 DM brutto verlangen. Auf die vom Rechtsvorgänger der Kläger tatsächlich erbrachte Arbeitsleistung im Bezugszeitraum kommt es nicht an.
Der Anspruch ist innerhalb der tariflichen Ausschlußfrist gemäß § 14 RTV schriftlich und gerichtlich geltend gemacht worden.
Der Zinsanspruch ergibt sich aus § 284 Abs. 1, § 288 Abs. 1 BGB. Zinsen können – wie die Kläger zuletzt beantragt haben – nur vom Nettobetrag und nicht vom Bruttobetrag verlangt werden (BAG Urteil vom 13. Februar 1985 – 4 AZR 295/83 – AP Nr. 3 zu § 1 TVG Tarifverträge: Presse).
III. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 91, 97 ZPO.
Unterschriften
Matthes, Dr. Freitag, Hauck, Dr. Hromadka, H. Grimm
Fundstellen