Entscheidungsstichwort (Thema)
Fristgerechte Berufung? - Mehrzahl von Schriftsätzen in einem Umschlag bei gemeinsamen Nachtbriefkasten mehrerer Gerichte
Orientierungssatz
Eine an ein zuständiges Gericht adressierte Rechtsmittelschrift geht allerdings auch im Fall einer gemeinsamen Annahmestelle nur bei dem Gericht ein, an das sie adressiert ist; der Eingang bei zuständigen Gericht erfolgt erst nach der Weiterleitung an dieses. Ist aber in einem solchen Fall der Beamte der Annahmestelle zur Entgegennahme von Schriftstücken aller beteiligten Gerichte bestellt, erkennt er die Falschadressierung und leitet die Berufungsschrift deshalb unmittelbar an das Berufungsgericht weiter, so ist sie nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, der sich der erkennende Senat anschließt, trotz der Falschadressierung sogleich beim Berufungsgericht eingegangen.
Tenor
1. Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des
Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 30. November 1998 - 10 Sa
1425/98 - aufgehoben.
2. Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und
Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das
Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Das Arbeitsgericht hat die gegen eine ordentliche, betriebsbedingte Kündigung der Beklagten vom 5. August 1997 gerichtete Klage abgewiesen. Das Urteil wurde dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers am 27. Juli 1998 zugestellt. Am 27. August 1998 warf der bei dem Klägervertreter beschäftigte Rechtsanwaltsfachangestellte D. einen mit einem Sichtfenster versehenen Briefumschlag, der nicht nur die Berufungsschrift, sondern auch weitere Schreiben an das Arbeits- und Landesarbeitsgericht Düsseldorf enthielt, in den gemeinsamen Nachtbriefkasten des Arbeitsgerichts Düsseldorf, des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf, des Sozialgerichts Düsseldorf und des Finanzgerichts Düsseldorf. Der Briefumschlag wurde am gleichen Tag ausweislich des Vermerks des Pförtners des Gerichtsgebäudes dem Nachtbriefkasten entnommen und an das Arbeitsgericht Düsseldorf weitergeleitet. Der Berufungsschriftsatz wurde dort unter dem 27. August 1998 mit dem Vermerk "Irrläufer" gestempelt und an das Landesarbeitsgericht weitergeleitet, das den Eingang am 28. August 1998 vermerkte.
Der Kläger hat vorgetragen, es könne nicht mehr rekonstruiert werden, welcher Schriftsatz in dem Fensterumschlag oben gelegen habe. Dies sei auch unerheblich. Die Berufungsschrift sei bereits am 27. August 1998 mit dem Einwurf in den Nachtbriefkasten beim Landesarbeitsgericht eingegangen. Der unbeschriftete Umschlag habe lediglich die Funktion gehabt, die Schriftstücke vor Verschmutzung und "Eselsohren" zu bewahren. Als Grundlage einer Adressierung habe der Umschlag schon deshalb nicht zu dienen gebraucht, weil der Bote die Schriftstücke gebündelt an den Bestimmungsort, nämlich den gemeinsamen Nachtbriefkasten von Arbeits- und Landesarbeitsgericht gebracht habe. Durch die Einrichtung eines gemeinsamen Nachtbriefkastens hätten die Gerichte zu erkennen gegeben, daß sie vor Mitternacht eingeworfene Schriftstücke noch an demselben Tag als in den Gewahrsam der zuständigen Stelle gelangt ansehen wollten. Die spätere behördeninterne Aufteilung der Eingangspost auf die im Gebäude ansässigen vier Gerichte könne nichts mehr daran ändern, daß sämtliche in dem Umschlag enthaltenen Schriftstücke bereits am 27. August 1998 zugegangen seien.
Der Kläger hat vorsorglich beantragt,
ihm wegen der Versäumung der Berufungsfrist die Wiedereinsetzung in
den vorigen Stand zu gewähren und hierüber vorab zu entscheiden.
Im übrigen hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht keinen Antrag gestellt.
Die Beklagte hat beantragt,
den Wiedereinsetzungsantrag und im übrigen die Berufung
zurückzuweisen.
Das Landesarbeitsgericht hat den Antrag des Klägers, das Verfahren auf die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu beschränken, gemäß § 238 Abs. 1 ZPO zurückgewiesen. Daraufhin hat die Beklagte beantragt,
die Berufung im Wege des Versäumnisurteils zurückzuweisen.
Das Landesarbeitsgericht hat mit dem angefochtenen Urteil die Berufung des Klägers verworfen und die Revision nicht zugelassen.
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hin hat das Bundesarbeitsgericht die Revision des Klägers mit Beschluß vom 18. März 1999 - 8 AZN 58/99 - zugelassen.
Mit seiner daraufhin eingelegten Revision verfolgt der Kläger in erster Linie seinen Kündigungsschutzantrag weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist begründet. Entgegen der Ansicht des Landesarbeitsgerichts ist die Berufung des Klägers am 27. August 1998 fristgerecht beim Berufungsgericht eingelegt worden (§ 66 Abs. 1 Satz 1, § 64 Abs. 6 ArbGG, § 516, § 518 Abs. 1 ZPO).
I. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 52, 203; 60, 243), des Bundesarbeitsgerichts (BAG 29. April 1986 - 7 AZB 6/85 - BAGE 52, 19) und des Bundesgerichtshofs (10. Februar 1994 - VII ZB 30/93 - NJW 1994, 1354, mwN) stellt die Einreichung eines fristgebundenen Schriftstückes bei einem Gericht eine einseitige Prozeßhandlung der Partei dar, die keiner Mitwirkung eines Bediensteten des betreffenden Gerichts bedarf. Für die Einreichung der Berufungsschrift ist allein entscheidend, ob sie fristgerecht in die Verfügungsgewalt des Berufungsgerichts gelangt. Wie und wann diese Verfügungsgewalt begründet wird, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls, deren Bewertung eine Frage der Auslegung des einfachen Rechts ist (BVerfGE 60, 243, 246). Eine an ein unzuständiges Gericht adressierte Rechtsmittelschrift geht allerdings auch im Fall einer gemeinsamen Annahmestelle oder eines gemeinsamen Nachtbriefkastens mehrerer Gerichte grundsätzlich zunächst nur bei dem Gericht ein, an das sie adressiert ist; der Eingang beim zuständigen Gericht erfolgt erst nach der Weiterleitung an dieses (BAG, aaO; BAG 5. November 1974 - 5 AZB 44/74 - und 14. Juli 1988 - 4 AZB 6/88 - AP ZPO § 518 Nr. 25 und 57; BGH 12. Oktober 1995 - VII ZR 8/95 - NJW-RR 1996, 443). Ist aber in einem solchen Fall der Beamte der Annahmestelle zur Entgegennahme von Schriftstücken aller beteiligten Gerichte bestellt, erkennt er die Falschadressierung und leitet die Berufungsschrift deshalb unmittelbar an das Berufungsgericht weiter, so ist sie nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, der sich der erkennende Senat anschließt, trotz der Falschadressierung sogleich beim Berufungsgericht eingegangen (BGH 21. Oktober 1960 - V ZB 11/60 - NJW 1961, 361).
II. Vorliegend war die Berufungsschrift des Klägers als solche zutreffend an das Landesarbeitsgericht adressiert. Ein zur Entgegennahme von Schriftstücken für alle beteiligten Gerichte bestellter Beamter hätte damit bei Öffnung des Umschlags den Schriftsatz sogleich für das Landesarbeitsgericht entgegengenommen, auch wenn der für mehrere Schriftstücke verwendete Fensterbriefumschlag vor seiner Öffnung nicht erkennen ließ, daß er die an das Landesarbeitsgericht adressierte Berufungsschrift enthielt. Mit dem Einwurf in den Nachtbriefkasten wurde zumindest ein Mitgewahrsam des Landesarbeitsgerichts an dem Briefumschlag samt Inhalt begründet und mit der Entgegennahme der Berufungsschrift für das Landesarbeitsgericht durch den Beamten einer gemeinsamen Annahmestelle wäre dieser Mitgewahrsam sodann in Alleingewahrsam des Landesarbeitsgerichts übergegangen. Damit hätte der Kläger die Berufungsfrist gewahrt (vgl. BGH 21. Oktober 1960, aaO).
Auch wenn aber vorliegend die Gerichte, die den gemeinsamen Nachtbriefkasten unterhielten, keinen Beamten zur Entgegennahme von Schriftstücken für alle beteiligten Gerichte bestellt hatten, sondern lediglich ein Bediensteter den Briefkasten zu leeren und entnommene Umschläge gemäß ihrer Adressierung ungeöffnet an die jeweiligen getrennten Annahmestellen der beteiligten Gerichte weiterzuleiten hatte, stünde dies einer rechtzeitigen Gewahrsamsbegründung des Landesarbeitsgerichts an der Berufungsschrift des Klägers nicht entgegen. Die Frage des rechtzeitigen Eingangs fristwahrender Schriftsätze kann nicht von der jeweiligen Organisation der Postverteilung "hinter" der gemeinsamen Empfangsvorrichtung mehrerer Gerichte abhängen; die Entscheidung, ob eine Rechtsmittelfrist gewahrt ist, ergäbe sich sonst nicht mehr allein aus dem Gesetz, sondern aus internen Anordnungen der Gerichtsverwaltung, was dem Bürger die Wahrnehmung seiner prozessualen Rechte unzumutbar erschweren würde und mit dem Gebot einer rechtsstaatlichen Verfahrensgestaltung und dem Anspruch auf rechtliches Gehör unvereinbar wäre (vgl. BVerfGE, aaO). Verzögerungen der Entgegennahme der Sendung durch das Gericht dürfen dem Bürger nicht angelastet werden (BVerfGE 69, 381, 386). Ebensowenig, wie die fehlerhafte Verteilung eines zutreffend adressierten Schriftstücks den bereits mit dem Einwurf in den gemeinsamen Briefkasten begründeten Gewahrsam des zuständigen Gerichts rückwirkend beseitigt, können die beteiligten Gerichte die Begründung von (Mit-)Gewahrsam an den in den gemeinsamen Briefkasten gelangten Sendungen dadurch vereiteln oder rückwirkend wieder beseitigen, daß sie keine gemeinsame Annahmestelle "hinter" dem gemeinsamen Briefkasten organisieren, die verschlossenen Umschläge zu öffnen und die entnommenen Schriftstücke an das Gericht weiterzuleiten hat, welches gemäß dem erkennbaren wirklichen Willen des Absenders Adressat sein soll.
Das Landesarbeitsgericht wird daher zu prüfen haben, ob die fristgerechte und auch im übrigen zulässige Berufung des Klägers begründet ist.
Etzel
Bröhl Fischermeier Baerbaum
Mauer
Fundstellen