Entscheidungsstichwort (Thema)
Tarifliche Kündigungsfrist als gesetzliche Kündigungsfrist im Sinne von § 9 Abs 2 GesO
Leitsatz (redaktionell)
Gesetzliche Kündigungsfristen iS von § 9 Abs 2 GesO sind auch die in einem Tarifvertrag geregelten Kündigungsfristen.
Orientierungssatz
Auslegung des § 4 Abs 2a des Manteltarifvertrages für die Arbeitnehmer der Berliner Blumen GmbH iA vom 31.5.1991.
Verfahrensgang
LAG Berlin (Entscheidung vom 21.12.1993; Aktenzeichen 5 Sa 104/93) |
ArbG Berlin (Entscheidung vom 22.07.1993; Aktenzeichen 85 Ca 3624/93) |
Tatbestand
Die am 26. Januar 1968 geborene Klägerin stand bei der Berliner Blumenhandels GmbH bzw. deren Rechtsvorgängerin seit 16. Juli 1986 im Arbeitsverhältnis. Über deren Vermögen wurde am 18. Januar 1993 durch das Amtsgericht Charlottenburg das Gesamtvollstreckungsverfahren eröffnet. Der zum Verwalter bestellte Beklagte hat das dem Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmer der "Berliner Blumen" GmbH i. A. vom 31. Mai 1991 unterfallende Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 29. Januar 1993, der Klägerin zugegangen am 2. Februar 1993, unter Hinweis auf § 9 Abs. 2 GesO und die Kündigungsfristen des AGB-DDR zum 28. Februar 1993 gekündigt.
Die Klägerin hat geltend gemacht, der Beklagte habe die einschlägige Kündigungsfrist des § 4 Abs. 2 a des genannten Manteltarifvertrags von drei Monaten zum Quartalsende nicht eingehalten, und beantragt
festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis zwischen
den Parteien nicht durch die ordentliche Kündi-
gung des Beklagten vom 29. Januar 1993 zum
28. Februar 1993 beendet worden ist, sondern bis
zum 30. Juni 1993 fortbestanden hat.
Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Er hat die Auffassung vertreten, gemäß § 9 Abs. 2 GesO sei allein die Kündigungsfrist nach § 55 AGB-DDR anwendbar. Die tarifliche Kündigungsfrist sei keine gesetzliche Kündigungsfrist im Sinne der genannten Bestimmung der GesO, zumal eine dem § 2 EGKO vergleichbare Vorschrift für das Gesamtvollstreckungsrecht der neuen Bundesländer fehle.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben, das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen.
Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision, deren Zurückweisung die Klägerin beantragt, verfolgt der Beklagte seinen Antrag auf Klageabweisung weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten ist nicht begründet.
I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die tarifliche sei einer gesetzlichen Kündigungsfrist im Sinne von § 9 Abs. 2 GesO gleichzusetzen. Gesetz im materiellen Sinne (§ 1 Abs. 1 TVG) sei auch der normative Teil (§ 4 Abs. 1 TVG) von Tarifverträgen. Die genannte Regelung der GesO entspreche § 22 Abs. 1 KO. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts seien tarifliche Kündigungsfristen gesetzliche Kündigungsfristen im Sinne der KO, wobei das Bundesarbeitsgericht dies nicht allein aus § 2 EGKO ableite. Auf diese Rechtsprechung könne auch für die Auslegung der GesO zurückgegriffen werden, weil die GesO materiell die wesentlichen Grundsätze der KO übernommen habe und eine solche Auslegung dem Ziel der Rechtsangleichung bei der Schaffung der deutschen Einheit entspreche. Entstehungsgeschichte, Wortlaut, Sinn und Zweck und der systematische Zusammenhang von § 9 Abs. 2 GesO mit anderen gesetzlichen Regelungen (Art. 2 EGBGB, § 12 EGZPO) ließen eine von § 22 Abs. 1 KO abweichende Auslegung nicht zu. Wenn der Gesetzgeber, insbesondere auch bei der Änderung und Ergänzung der GesO durch Art. 5 des Gesetzes zur Beseitigung von Hemmnissen bei der Privatisierung von Unternehmen und zur Förderung von Investitionen vom 22. März 1991, in Kenntnis des Meinungsstreits um die Auslegung von § 22 Abs. 1 KO und der diesbezüglichen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts keinen Anlaß gesehen habe, tarifliche Kündigungsfristen auszuklammern und klarzustellen, daß gesetzliche Kündigungsfristen im Sinne von § 9 Abs. 2 GesO nur die des AGB-DDR seien, so deute dies darauf hin, daß der genannten Bestimmung der GesO derselbe Gehalt beigemessen werden solle wie § 22 Abs. 1 KO. Die gegenüber der KO schlechtere Rangfolge der Ansprüche von Arbeitnehmern gemäß § 13 GesO stehe einer solchen Auslegung nicht entgegen. Wenn der Gesetzgeber den Tarifvertragsparteien die Regelung der Arbeitsbedingungen überlassen habe, so habe er darauf vertraut, daß auf diesem Weg ein auch für die Allgemeinheit interessengerechtes Ergebnis zustande komme.
II. Diese Ausführungen des Landesarbeitsgerichts halten den Angriffen der Revision stand.
1. Zutreffend ist die Ansicht der Revision, die GesO enthalte hinsichtlich der für Arbeitsverhältnisse einzuhaltenden Kündigungsfristen keine Regelungslücke. Ob tarifliche Kündigungsfristen gesetzliche Kündigungsfristen im Sinne von § 9 Abs. 2 GesO sind, ist vielmehr eine Frage der Auslegung.
2. Soweit in der Literatur zur GesO diese Frage überhaupt behandelt wird, wird überwiegend angenommen, tarifliche Kündigungsfristen seien für § 9 Abs. 2 GesO zu beachten (vgl. Bichlmeier/Oberhofer, Konkurshandbuch III, 2. Aufl., § 9 GesO Anm. 3; Berscheid, Gesamtvollstreckung, Rz 80 ff.; Smid/Zeuner/Müller, GesO, 2. Aufl., § 9 Rz 74; a.A. noch, allerdings ohne Begründung, Smid/Zeuner, GesO, 1. Aufl., § 9 Rz 34; unklar Haarmeyer/Wutzke/Förster, GesO, 2. Aufl., § 9 Rz 15).
3. Mit Recht geht das Landesarbeitsgericht davon aus, daß tarifliche Rechtsnormen im Sinne von § 4 Abs. 1 TVG Gesetze im materiellen Sinne darstellen (vgl. BVerfGE 44, 322, 341 = AP Nr. 15 zu § 5 TVG, zu B II 1 b aa der Gründe; BVerfGE 55, 7, 21 = AP Nr. 17 zu § 5 TVG, zu B II 1 der Gründe; BAGE 1, 258, 263 = AP Nr. 4 zu Art. 3 GG; BAGE 4, 240, 250 = AP Nr. 16 zu Art. 3 GG, zu IV der Gründe; Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 7. Aufl., § 198 III 1, S. 1488, m.w.N.). Nach dem Wortlaut des § 9 Abs. 2 GesO kommt deshalb die Anwendung von § 4 Abs. 2 a des genannten Manteltarifvertrages als der gegenüber § 55 AGB-DDR spezielleren Norm grundsätzlich in Betracht. Für die Ermittlung von Sinn und Zweck des Gesetzes durfte das Landesarbeitsgericht somit weiter auf den Gesamtzusammenhang der Rechtsordnung und die Entstehungsgeschichte zurückgreifen.
4. Wird in der Rechtsordnung von Gesetzen gesprochen, so ist damit grundsätzlich auch der normative Teil von Tarifverträgen gemeint; etwas anderes gilt nur dann, wenn die Auslegung der konkreten Regelung ergibt, daß ausschließlich Gesetze im formellen Sinn, d. h. die vom Parlament im förmlichen Gesetzgebungsverfahren beschlossenen Normen, gemeint sind (vgl. Schaub, aaO). Soweit das Landesarbeitsgericht diesen Grundsatz daraus ableitet, daß nicht etwa nur der für die GesO nicht einschlägige § 2 EGKO, sondern auch Art. 2 EGBGB und § 12 EGZPO von einem materiellen Begriff des Gesetzes ausgehen, ist dies nicht zu beanstanden (vgl. auch BAGE 46, 206 = AP Nr. 5 zu § 22 KO, m.w.N.).
5. Entgegen der Ansicht der Revision spricht die Entstehungsgeschichte nicht gegen, sondern für eine entsprechende Auslegung von § 9 Abs. 2 GesO. Zutreffend weist das Landesarbeitsgericht darauf hin, daß schon der Gesetzgeber der DDR trotz der zu § 22 KO in der Literatur bestehenden Kontroverse und der einschlägigen Rechtsprechung des Senats (BAGE 46, 206 = AP Nr. 5 zu § 22 KO) eine Differenzierung des Gesetzesbegriffs in der genannten Bestimmung der GesO nicht vorgenommen hat. Jedenfalls läßt aber der Umstand, daß die Änderung von § 9 Abs. 2 GesO durch den Einigungsvertrag Anlage II Kap. III Sachgebiet A Abschnitt II Nr. 1 b ee und auch die erneute Änderung von § 9 GesO durch Art. 5 des Gesetzes zur Beseitigung von Hemmnissen bei der Privatisierung von Unternehmen und zur Förderung von Investitionen vom 22. März 1991 nicht zum Anlaß für eine solche Differenzierung genommen wurde, darauf schließen, der materielle Gesetzesbegriff, wie er nach der Rechtsprechung des Senats § 22 KO zugrunde liegt, solle nach dem Willen des Gesetzgebers auch bei der Kündigung von Arbeitsverhältnissen in der Gesamtvollstreckung maßgeblich sein. Die entsprechende Auslegung durch das Landesarbeitsgericht steht im Einklang mit dem generellen Ziel der Rechtsangleichung für das Beitrittsgebiet.
6. Die Auslegung steht auch nicht im Widerspruch zum Normzweck anderer, von der KO abweichenden Vorschriften der GesO. Aus dem Umstand, daß die Vergütungsansprüche freigestellter Arbeitnehmer gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 3 a GesO - anders als nach der KO - im Rang erst nach anderen Masseforderungen zu befriedigen sind, läßt sich keineswegs ableiten, auch § 9 Abs. 2 GesO müsse in einer die Position der Arbeitnehmer schwächenden Weise ausgelegt werden. Zum einen können die Kündigungsfristen des § 55 AGB-DDR durch Tarifverträge nicht nur verlängert, sondern (mit Ausnahme der Grundfrist des § 55 Abs. 1 AGB-DDR) auch verkürzt werden (§ 55 Abs. 3 AGB-DDR). Die Anerkennung tariflicher Kündigungsfristen als gesetzliche Fristen ist also nicht stets eine Verbesserung der Rechtsposition der Arbeitnehmer. Zum anderen ließe sich die Ansicht vertreten, der Gesetzgeber habe möglicherweise gerade wegen der verfahrenssichernden Rangvorschrift des § 13 Abs. 1 Nr. 3 a GesO eine Einschränkung des Gesetzesbegriffs in § 9 Abs. 2 GesO für nicht erforderlich gehalten. Selbst wenn die Befürchtung des Beklagten zuträfe, die an die Vergütungsansprüche der freigestellten Arbeitnehmer anknüpfenden Beitragsforderungen der Sozialversicherungsträger seien im Rang des § 13 Abs. 1 Nr. 1 GesO zu befriedigen, würde das gesetzgeberische Ziel gewahrt, im Interesse der Durchführbarkeit des Verfahrens die Massezulänglichkeit weitergehend als nach der KO zu sichern. Zu § 22 KO hat der Senat in seinem Urteil vom 7. Juni 1984 (BAGE 46, 206 = AP Nr. 5 zu § 22 KO) ausgeführt, der Gesetzgeber überlasse den Tarifvertragsparteien die Regelung der Arbeitsbedingungen hinsichtlich der Kündigungsfristen ebenso wie hinsichtlich der Vergütungshöhe im Vertrauen darauf, daß auf diesem Weg ein auch für die Allgemeinheit interessengerechtes Ergebnis zustande komme, nur in den Fällen einer einzelvertraglichen Dispositionsmöglichkeit über die Kündigungsfristen bestehe die Gefahr der mißbräuchlichen Belastung der Masse mit Masseschulden; Tarifverträge würden ebensowenig wie gesetzliche Kündigungsvorschriften für den Fall des Konkurses aufgestellt und könnten deshalb auch nicht als verbindliche Regeln zu Lasten der nicht tarifgebundenen Gläubiger angesehen werden. Diese Erwägungen hat das Landesarbeitsgericht mit Recht auch für § 9 Abs. 2 GesO als stichhaltig angesehen. Die Zurückweisung der Berufung der Beklagten durch das Landesarbeitsgericht ist somit nicht zu beanstanden.
Etzel Bröhl Fischermeier
Strümper Piper
Fundstellen
Haufe-Index 437975 |
D-spezial 1995, Nr 33, 7 (K) |
EWiR 1995, 779 (S) |
KTS 1995, 726-728 (LT) |
NZA 1996, 99 |
RzK, IV 5 Nr 7 (LT1) |
ZAP-Ost, EN-Nr 300/95 (S) |
ZIP 1995, 849 |
ZIP 1995, 849-850 (ST1) |
AP § 9 GesO (LT1)chst), Nr 1 |
AR-Blattei ES 970 Nr 89 (LT1, ST1) |
EzA § 9 Gesamtvollstreckungsordnung, Nr 1 (LT1) |