Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorruhestand im Baugewerbe. Allgemeinverbindlichkeit
Leitsatz (redaktionell)
Allgemeinverbindlichkeit des Vorruhestandstarifvertrages für das Baugewerbe
Normenkette
TVG § 5; GG Art. 9; Vorruhestands-TV Baugewerbe
Verfahrensgang
Nachgehend
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 5. Juni 1988 – 14 Sa 1389/87 – wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Klägerin ist eine gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien des Baugewerbes, die nach dem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag über das Verfahren für den Urlaub, den Lohnausgleich und die Zusatzversorgung im Baugewerbe (Verfahrens-TV) und nach dem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag über das Verfahren für den Vorruhestand im Baugewerbe (TV Vorruhestandsverfahren) die entsprechenden Beiträge von den Arbeitgebern einzieht und Auskünfte zur Errechnung der Beiträge einholt. Sie verlangt von der Beklagten die Zahlung von Sozialkassenbeiträgen für die Zeit von April bis Juni 1986 in der rechnerisch unstreitigen Höhe von 14.410,35 DM.
Die Beklagte ist ein Unternehmen der Bauwirtschaft mit mehreren Niederlassungen. Im Jahre 1986 beschäftigte sie 559 Arbeitnehmer und erzielte einen Umsatz von 70 Mio. DM. Die Beklagte gehört keinem Arbeitgeberverband an.
Die aufgrund des TV Vorruhestandsverfahren zu zahlenden Beiträge leistete die Beklagte zunächst unter Vorbehalt, stellte aber später diese Zahlungen ein. Die Klägerin verrechnete danach die Beiträge mit den der Beklagten zustehenden Erstattungsforderungen. Die Beklagte leistete sodann keinerlei Beitragszahlungen mehr.
Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, die Regelungen in den Vorruhestandstarifverträgen seien wirksam. Für die Allgemeinverbindlicherklärung dieser Tarifverträge habe auch ein öffentliches Interesse bestanden. Demgemäß sei auch die Beklagte verpflichtet, Beiträge zur Finanzierung der Vorruhestandsleistungen zu zahlen.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an sie 14.410,35 DM zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen und
widerklagend festzustellen, daß die Beklagte nicht verpflichtet ist, Beiträge aus dem Vorruhestandstarifvertrag vom 26. September 1984 i.d.F. vom 17. Dezember 1985 und dem Tarifvertrag Vorruhestandsverfahren vom 12. Dezember 1984 i.d.F. vom 17. Dezember 1985 zu zahlen.
Die Klägerin hat beantragt,
die Widerklage abzuweisen.
Die Beklagte hat erwidert, sie sei als nicht tarifgebundene Arbeitgeberin nicht verpflichtet, Beitragsleistungen zur Finanzierung des Vorruhestandes zu erbringen, da sowohl die Vorruhestandstarifverträge als auch die Allgemeinverbindlicherklärungen, die erst die Verpflichtungen der nicht tarifgebundenen Arbeitgeber begründeten, rechtsunwirksam seien. § 5 TVG sei insoweit verfassungswidrig, als er sich auf Tarifverträge beziehe, die nicht den Inhalt von Arbeitsverhältnissen ordnen. Die Allgemeinverbindlicherklärungen der Vorruhestandstarifverträge seien rechtsunwirksam, weil die zugrundeliegenden Tarifverträge selbst unwirksam seien. In der staatlichen Mitwirkung in Gestalt der Allgemeinverbindlicherklärung liege ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 GG. Hätte der Gesetzgeber nämlich entsprechende Regelungen in einem förmlichen Gesetz erlassen, hätte er diese nicht auf den Bereich des Baugewerbes beschränken dürfen. Die wegen der zu erwartenden Vorruhestandsleistungen notwendigen Rückstellungen beliefen sich auf etwa 1/10 des Gesamtumsatzes der Beklagten. Eine derartige Belastung stelle eine „Erdrosselung” des Unternehmens dar und führe zur Existenzgefährdung mittelständischer Unternehmen. Im Gegensatz zu Vorruhestandstarifverträgen anderer Branchen enthielten die Vorruhestandstarifverträge des Baugewerbes keine Überforderungsschutzklausel. Die Beklagte werde deshalb durch die Regelungen im Vorruhestandstarifvertrag in ihren Grundrechten auf Eigentum (Art. 14 GG) und auf freie Berufswahl und Berufsausübung (Art. 12 Abs. 1 GG) verletzt. Das Tarifvertragswerk verstoße wegen des Kontrahierungszwanges ferner gegen das Grundrecht auf Vertragsfreiheit und unternehmerische Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG. Im übrigen habe auch kein öffentliches Interesse für die Allgemeinverbindlicherklärung der Vorruhestandstarifverträge bestanden.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben und die Widerklage abgewiesen. In der Berufungsinstanz hat die Beklagte ihren widerklagend gestellten Feststellungsantrag auch auf den Vorruhestands-TV und den TV Vorruhestandsverfahren, jeweils i.d.F. vom 12. November 1986, in Verb. mit dem Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe vom 12. November 1986, erstreckt. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.
Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision beantragt die Beklagte weiterhin Klageabweisung und die mit der Widerklage begehrte Feststellung in dem in der ersten Instanz verfolgten Umfang. Die Klägerin beantragt Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben der Klage mit Recht stattgegeben. Die Beklagte ist verpflichtet, an die Klägerin 14.410,35 DM zu zahlen. Diesen in seiner rechnerischen Höhe unstreitigen Betrag schuldet die Beklagte der Klägerin als Sozialkassenbeitrag nach § 17 des allgemeinverbindlichen Tarifvertrages über das Verfahren für den Vorruhestand im Baugewerbe (TV Vorruhestandsverfahren). Die Beklagte ist verpflichtet, an die Klägerin Beiträge nach dem TV Vorruhestandsverfahren zu zahlen.
Die Beklagte fällt als Unternehmen der Bauwirtschaft unzweifelhaft unter den Geltungsbereich der Tarifverträge für das Baugewerbe, u.a. auch des TV(Vorruhestandsverfahren. Dieser Tarifvertrag findet auf das Rechtsverhältnis der Parteien kraft Allgemeinverbindlicherklärung mit unmittelbarer und zwingender Wirkung Anwendung (§ 5 Abs. 4, § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG). Entgegen der Auffassung der Beklagten sind sowohl der TV Vorruhestandsverfahren als auch dessen Allgemeinverbindlicherklärung wirksam. Verstöße gegen Vorschriften des Grundgesetzes liegen insoweit nicht vor.
§ 17 TV Vorruhestandsverfahren verstößt weder gegen Art. 2 Abs. 1 GG noch gegen Art. 9 Abs. 3 GG, Art. 12 Abs. 1 GG oder Art. 14 GG. Tarifnormen unterliegen der Bindung an die Grundrechte nach Art. 1 Abs. 3 GG, da es sich bei der Normsetzung durch die Tarifvertragsparteien um Gesetzgebung im materiellen Sinne handelt (BVerfGE 55, 7, 21 = AP Nr. 17 zu § 5 TVG; BVerfGE 44, 322, 341 = AP Nr. 15 zu § 5 TVG).
Das Begehren der Beklagten, der Normsetzung der Tarifvertragsparteien über die gemeinsamen Einrichtungen nach den Vorruhestandstarifverträgen im Baugewerbe nicht unterworfen zu werden, ist in erster Linie an Art. 9 Abs. 3 GG zu messen. Dieses Grundrecht schützt für jedermann und alle Berufe das Recht, sich zu Koalitionen zusammenzuschließen, sowie auch die Koalition als solche und ihr Recht, durch spezifische koalitionsmäßige Betätigung die in der Vorschrift genannten Zwecke zu verfolgen. Insbesondere umfaßt die Koalitionsfreiheit als individuelles Recht auch das Recht des einzelnen, einer Koalition fernzubleiben (vgl. BVerfGE 55, 7, 21 = AP Nr. 17 zu § 5 TVG; BVerfGE 50, 290, 367 = AP Nr. 1 zu § 1 MitbestG). Durch die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen, die gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien vorsehen und regeln, werden die Außenseiter jedoch nicht in ihrem Grundrecht auf positive und negative Koalitionsfreiheit verletzt. Die allgemeinverbindlichen Tarifverträge begründen für die Außenseiter weder eine Mitgliedschaft in den jeweils beteiligten Arbeitgeberverbänden noch in den gemeinsamen Einrichtungen. Mitglieder der gemeinsamen Einrichtungen werden nur die Berufsverbände selbst. Das Fehlen eines Mitgliedschaftsverhältnisses hat für die Außenseiter allerdings den Nachteil, daß sie die ordnungsgemäße Wahrnehmung ihrer Interessen durch die gemeinsamen Einrichtungen nicht wie organisierte Arbeitgeber mittelbar über die Berufsverbände, die Mitglieder der gemeinsamen Einrichtungen sind, kontrollieren können. Dies kann für Außenseiter ein Anlaß sein, einer an den gemeinsamen Einrichtungen beteiligten Berufsorganisation beizutreten. Soweit sich daraus ein gewisser Druck, Mitglied einer Koalition zu werden, ergibt, ist dieser nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht so erheblich, daß die negative Koalitionsfreiheit verletzt würde (BVerfGE 55, 7, 22 = AP NR. 17 zu § 5 TVG; BVerfGE 20, 312, 321 f. = AP Nr. 24 zu § 2 TVG). Es kann überdies angenommen werden, daß zumindest die gegenseitige Kontrolle der Sozialpartner, die Mitglieder der gemeinsamen Einrichtungen sind, im Ergebnis auch Außenseitern zugute kommt (BVerfGE 55, 7, 22 = AP Nr. 17 zu § 5 TVG m.w.N.).
Der Senat folgt dieser Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Er sieht keinen Anlaß, von ihr abzuweichen. Zum einen erfüllen die Koalitionen mit der Schaffung von Tarifnormen, die der Allgemeinverbindlicherklärung zugänglich sind und deren allgemeine Geltung im öffentlichen Interesse geboten erscheint (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 TVG), in besonderem Maße die ihnen durch Art. 9 Abs. 3 GG zugewiesene öffentliche Aufgabe, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen in eigener Verantwortung und im wesentlichen ohne staatliche Einflußnahme zu gestalten. Zum anderen setzt die Verbindlichkeit für Außenseiter die staatliche Mitwirkung an der Normsetzung für die Außenseiter voraus (BVerfGE 55, 7, 24 = AP Nr. 17 zu § 5 TVG m.w.N.).
Der TV Vorruhestandsverfahren verletzt auch nicht das Grundrecht der freien Berufswahl und Berufsausübung nach Art. 12 Abs. 1 GG. Denn der TV Vorruhestandsverfahren ist nicht auf die Regelung unternehmerischer Tätigkeiten gerichtet. Die sich aus dem Tarifvertrag ergebende Beitragspflicht zur Finanzierung der Vorruhestandsleistungen beschränkt weder den Zugang der Unternehmer zu einer Tätigkeit im Bereich des Baugewerbes noch macht sie die sinnvolle Ausübung einer solchen Tätigkeit unmöglich. Es gehört zum allgemeinen Risiko eines Unternehmers, zu beurteilen, ob der erforderliche Aufwand für die beschäftigten Arbeitskräfte für das Unternehmen tragbar ist. Im übrigen führt der allgemeinverbindliche TV Vorruhestandsverfahren zu einer gleichmäßigen Belastung aller Arbeitgeber des Baugewerbes, so daß insoweit Wettbewerbsnachteile für einzelne Unternehmer vermieden werden. Insgesamt gesehen kann danach keine Rede davon sein, daß die Auferlegung der Beitragsverpflichtung gegenüber den Sozialkassen für den Zugang zu einer Tätigkeit im Bereich des Baugewerbes in besonderer Weise prohibitiv wirkt. Ebensowenig enthält der TV Vorruhestandsverfahren eine Berufsausübungsregelung im Sinne des Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG. Die Normen über die Beitragspflicht zu den Sozialkassen regeln nur den Interessenausgleich zwischen den branchenzugehörigen Arbeitgebern untereinander und zu den Arbeitnehmern auf übertariflicher Ebene, ohne daß dadurch die Tätigkeit des einzelnen Arbeitgebers als gewerblicher Unternehmer berührt wird. Damit folgt der Senat auch insoweit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 55, 7, 27 = AP Nr. 17 zu § 5 TVG).
Auch soweit der Vorruhestandstarifvertrag, der den sachlich begründeten Anlaß für die Beitragspflicht der Arbeitgeber nach dem TV Vorruhestandsverfahren darstellt, den Arbeitnehmern unter den tariflichen Voraussetzungen gegen den Arbeitgeber einen Anspruch auf Eintritt in den Vorruhestand und auf Zahlung von Vorruhestandsgeld einräumt, verstößt er nicht gegen das Grundgesetz. Die Berufswahl und Berufsausübung der Arbeitgeber im Sinne von Art. 12 Abs. 1 GG wird durch den Vorruhestandstarifvertrag nicht berührt. Dem Arbeitgeber bleibt das prinzipielle Dispositionsrecht über die Arbeitsplätze in seinem Unternehmen vorbehalten. Er kann aber nicht allein bestimmen, ob bestimmte Arbeitsverhältnisse aufrecht erhalten werden oder nicht. Zur freien Berufswahl des Unternehmers gehört nur, daß ihm die Möglichkeit eingeräumt werden muß, ein Arbeitsverhältnis zu beenden. Hingegen hat ein Unternehmer keinen Anspruch auf Aufrechterhaltung eines bestimmten Arbeitsverhältnisses. Vielmehr gehört es insoweit zur freien Berufswahl sowohl der Unternehmer als auch der Arbeitnehmer, daß jeder von ihnen die Möglichkeit haben muß, von sich aus das Arbeitsverhältnis zu beenden. Wenn ein Gesetz diese Möglichkeiten erleichtert (Vorruhestand) oder erschwert (Kündigungsschutz), liegt dies im gesetzgeberischen Ermessen und ist durch das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) gedeckt. Die prinzipielle Dispositionsfreiheit beider Arbeitsvertragsparteien zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses wird dadurch nicht berührt. Damit liegt auch kein Verstoß gegen die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte unternehmerische Handlungsfreiheit vor.
Durch die Heranziehung zu Sozialkassenbeiträgen werden die Arbeitgeber auch nicht in ihrem Recht auf Eigentum nach Art. 14 GG verletzt. Mit Recht hat das Landesarbeitsgericht darauf hingewiesen, daß das Vermögen als solches keinen verfassungsrechtlichen Schutz genießt (BVerfGE 74, 129, 148; BVerfGE 65, 196, 209). Insoweit werden von der Revision auch keine Einwände mehr erhoben.
Die Allgemeinverbindlicherklärung des TV Vorruhestandsverfahren ist wirksam. § 5 Abs. 1 TVG, der die Voraussetzungen für eine Allgemeinverbindlicherklärung regelt, ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit dem Grundgesetz vereinbar (BVerfGE 55, 7, 27 = AP Nr. 17 zu § 5 TVG; BVerfGE 44, 322, 338 = AP Nr. 15 zu § 5 TVG). Unter den Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 TVG ist auch die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen über gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien, die den Arbeitgebern Beitragspflichten auferlegen, zulässig (vgl. BVerfGE 55, 7, 27 = AP Nr. 17 zu § 5 TVG). Ob die Voraussetzungen für die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages im Einzelfalle erfüllt sind, haben die Gerichte der Arbeitsgerichtsbarkeit zu überprüfen (BVerfGE 55, 7, 28 = AP Nr. 17 zu § 5 TVG; BVerfGE 18, 85, 92 = AP Nr. 1 zu § 90 BVerfGG). Diese Prüfung ergibt im vorliegenden Fall, daß sich die Allgemeinverbindlicherklärung des TV Vorruhestandsverfahren im Rahmen der gesetzlichen Ermächtigung des § 5 TVG hält.
Zweifel an der Rechtswirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärung des TV Vorruhestandsverfahren wegen des in § 5 TVG vorgeschriebenen Verfahrens bestehen nicht. Ferner ist die erste Voraussetzung für die Allgemeinverbindlicherklärung, daß „die tarifgebundenen Arbeitgeber nicht weniger als 50 vom Hundert der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallenden Arbeitnehmer beschäftigen” (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG), zwischen den Parteien nicht streitig.
Entgegen der Auffassung der Revision hat das Landesarbeitsgericht aber auch mit Recht angenommen, daß die weitere Voraussetzung des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 TVG für die Allgemeinverbindlicherklärung vorliegend erfüllt ist. Nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 TVG setzt die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages voraus, daß sie „im öffentlichen Interesse geboten erscheint”. Hierbei ist nach ständiger Rechtsprechung des Senats und in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 3. November 1988 – 7 C 115.86 –) der zuständigen Behörde ein weiter Beurteilungsspielraum einzuräumen. Eine gerichtliche Überprüfung der behördlichen Entscheidung kommt nur insoweit in Betracht, als der Behörde wesentliche Fehler vorzuwerfen sind (BAGE 31, 241, 251 = AP Nr. 16 zu § 5 TVG; BAGE 27, 175, 185 = AP Nr. 29 zu § 2 TVG; BAGE 17, 59, 70 = AP Nr. 12 zu § 5 TVG). Wenn das Landesarbeitsgericht von einem „besonders weiten Beurteilungsspielraum” der staatlichen Behörde spricht, stimmt auch dies mit der Senatsrechtsprechung überein. In seinem Urteil vom 12. Oktober 1988 (4 AZR 244/88, nicht veröffentlicht) hat der Senat hervorgehoben, daß „ein außerordentlich weiter Beurteilungsspielraum der staatlichen Behörden” bei der Prüfung des öffentlichen Interesses besteht.
Das Bundesverfassungsgericht räumt der zuständigen Behörde bei der Entscheidung der Allgemeinverbindlicherklärung ausdrücklich ein „eigenes pflichtgemäßes Ermessen” ein (BVerfGE 44, 322, 344 = AP Nr. 15 zu § 5 TVG). Da das öffentliche Interesse nur geboten erscheinen muß, ergibt sich schon aus dem Gesetzeswortlaut, daß die Anwendung dieses Begriffes nur in beschränktem Umfang gerichtlich überprüfbar ist. Hinzu kommt, daß jeder Allgemeinverbindlicherklärung ein Verfahren vorausgeht, in dem die Betroffenen gehört werden und in dem ein eigener Tarifausschuß der Allgemeinverbindlicherklärung im voraus zustimmen muß. Diese verfahrensmäßige Absicherung der Interessenabwägung ist ein ausreichender Schutz, um dem für die Allgemeinverbindlicherklärung zuständigen Minister einen entsprechenden Beurteilungsspielraum einzuräumen, der eine noch weitergehende gerichtliche Kontrolle nicht mehr notwendig macht.
Ist damit das Landesarbeitsgericht bei der gerichtlichen Überprüfung der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen von der zutreffenden eigenen Prüfungskompetenz ausgegangen, konnte es ohne Rechtsfehler annehmen, daß die Allgemeinverbindlicherklärung des TV Vorruhestandsverfahren im öffentlichen Interesse geboten erschien. Das öffentliche Interesse an der Allgemeinverbindlicherklärung der Vorruhestandstarifverträge des Baugewerbes kann vorliegend schon allein deshalb bejaht werden, weil diese Tarifverträge dem Zweck des Vorruhestandsgesetzes, das Ausscheiden älterer Arbeitnehmer aus dem Erwerbsleben zu erleichtern und einen Arbeitslosen auf dem freiwerdenden Arbeitsplatz zu beschäftigen, in besonderem Maße gerecht werden. Ein vom Parlament verfolgter Zweck, der sich in einem Bundesgesetz bereits niedergeschlagen hat, kann von der zuständigen Behörde zur Konkretisierung des „öffentlichen Interesses” herangezogen werden (Wiedemann, RdA 1987, 262, 269). Mit Recht verweist das Landesarbeitsgericht auch darauf, daß die Allgemeinbindlicherklärung von Tarifverträgen, die nicht Entgelt- oder Arbeitszeitfragen, sondern zusätzliche Arbeitgeberleistungen, z.B. Altersversorgung, Berufsbildung, Vermögensbildung, betreffen, gerade im Bereich der Tarifverträge über gemeinsame Einrichtungen eine besondere Bedeutung hat. Denn es würde eine Verzerrung der Belastungen drohen, wenn – ohne Allgemeinverbindlicherklärung – die organisierten Arbeitgeber entsprechend den tariflichen Bestimmungen auch Beiträge für die organisierten Arbeitnehmer in nicht tarifgebundenen Unternehmen aufbringen und an die gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien abführen müßten, während die nicht tarifgebundenen Unternehmen selbst für ihre organisierten Arbeitnehmer insoweit keine Leistungen erbringen müßten. Dies liefe letztlich auf eine Subventionierung der nicht tarifgebundenen Unternehmen durch die eigenen tarifgebundenen Wettbewerber hinaus.
Entgegen der Auffassung der Revision ist es für das Erfordernis des öffentlichen Interesses i. S. des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 TVG ohne Bedeutung, daß die für allgemeinverbindlich erklärten Vorruhestandstarifverträge des Baugewerbes keine „Härteregelung” für atypische Sonderfälle enthalten. Insoweit ist die gesetzliche Regelung in § 2 Abs. 1 Nr. 4 VRG eindeutig. Nach dem Wortlaut dieser Vorschrift setzt der Anspruch auf den Zuschuß voraus, daß
„4. die freie Entscheidung des Arbeitgebers bei einer über 5 vom Hundert der Arbeitnehmer des Betriebes hinausgehenden Inanspruchnahme sichergestellt ist oder eine Ausgleichskasse der Arbeitgeber oder eine gemeinsame Einrichtung besteht, wobei beide Voraussetzungen in Tarifverträgen verbunden werden können; für die Berechnung der Zahl der Arbeitnehmer ist der Durchschnitt der letzten zwölf Kalendermonate vor dem Ausscheiden des Arbeitnehmers maßgebend; dabei werden Auszubildende und Schwerbehinderte nicht mitgezählt, …”
Danach ist ein Überforderungsschutz oder eine „Härteregelung” dann nicht erforderlich, wenn eine gemeinsame Einrichtung besteht (vgl. Wiedemann, RdA 1987, 262, 267 f. und Schlachter, BB 1987, 758, 760; Grüner/Dalichau, VRG, Stand: 1. Januar 1989, § 2 Vorruhestandsgesetz Art. 1 Anm. VI; Pröbsting, VRG, 1984, S. 16 f.; a.A. von Hoyningen-Huene, BB 1986, 1909, 1912).
Es verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG, daß die Geltung der allgemeinverbindlichen Tarifnormen über die gemeinsame Einrichtung auf die Berufsbereiche des Baugewerbes beschränkt ist. Diese Beschränkung des Geltungsbereichs hat einen ausreichenden sachlichen Grund darin, daß im Baugewerbe hinsichtlich der Fluktuation der Arbeitnehmer besondere Verhältnisse gegeben sind (BVerfGE 55, 7, 26 = AP Nr. 17 zu § 5 TVG).
Die Beklagte hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten ihrer erfolglosen Revision zu tragen.
Unterschriften
Dr. Neumann, Dr. Freitag, Dr. Etzel, Dr. Börner, H. Hauk
Fundstellen