Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiederholte Anrechnung von Untertagedienstzeiten
Leitsatz (amtlich)
- Zeiten, die der Inhaber eines Bergmannsversorgungsscheines unter Tage verbracht hat, sind nach § 9 BergmannsVersorgScheinG NRW in jedem Folgearbeitsverhältnis zu berücksichtigen, wenn die Entstehung oder die Höhe eines Versorgungsanspruches von der Dauer der Betriebs- oder Berufszugehörigkeit abhängen (Bestätigung des Urteils des Senats vom 26. Oktober 1978 – 3 AZR 604/77 – AP Nr. 15 zu § 9 BergmannsVersorgScheinG NRW).
- Jedoch soll eine mehrfache Anrechnung der unter Tage verbrachten Dienstzeiten nicht zur Summierung von Versorgungsleistungen für dieselbe Bezugszeit führen. Jeder außerbergbauliche Arbeitgeber kann deshalb bei der Bemessung seiner Versorgungsleistungen diejenigen Betriebsrententeile anrechnen, die der Arbeitnehmer in einem früheren Arbeitsverhältnis nach § 9 Abs. 3 BergmannsVersorgScheinG NRW für dieselbe Untertagedienstzeit erworben hat.
- Die Anrechnungspflicht setzt nicht voraus, daß der Arbeitnehmer bei der Einstellung auf seinen Bergmannsversorgungsschein hingewiesen hat.
Normenkette
BergmannsVersorgScheinG NRW § 9 Abs. 3, §§ 10, 12a; BergmannsVersorgScheinG - BVSG NW § 9 Abs. 3; BVSG NW § 9 Abs. 3; GG Art. 3, 14; BetrAVG § 2
Verfahrensgang
LAG Hamm (Urteil vom 13.07.1982; Aktenzeichen 6 Sa 1344/81) |
ArbG Herne (Urteil vom 18.09.1981; Aktenzeichen 4 Ca 98/81) |
Tenor
- Auf die Revisionen des Klägers und der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 13. Juli 1982 – 6 Sa 1344/81 – aufgehoben.
- Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revisionen, an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen !
Tatbestand
Der im Jahre 1922 geborene Kläger war vom 5. Juli 1947 bis zum 2. Juni 1950 und vom 22. September 1952 bis zum 12. Juni 1956 als Bergmann unter Tage beschäftigt. Am 7. September 1956 erhielt er den Bergmannsversorgungsschein. Vom 1. Dezember 1960 bis zum 30. November 1975 war er bei dem Finanzamt Recklinghausen als Angestellter tätig. Während dieser Zeit war er wegen einer zusätzlichen Alters- und Hinterbliebenenversorgung bei der Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder zusatzversichert. Am 18. August 1976 trat er in die Dienste der Beklagten. Diese teilte ihm unter dem Datum vom 14. November 1977 mit, daß er mit Wirkung vom 18. August 1977 in ihr Versorgungswerk aufgenommen worden sei. Die Einzelheiten seien in einer Broschüre mit dem Titel “Betriebliche Altersversorgung der Firma M…-… ” geregelt. Am 22. Februar 1980 wurde der Kläger erwerbsunfähig. Das Arbeitsverhältnis endete am 30. April 1980. Seit dem 1. März 1980 bezieht der Kläger von der Bundesknappschaft eine Erwerbsunfähigkeitsrente. Ferner erhält er von der VBL eine Versichertenrente in Höhe von 98,– DM monatlich. Dagegen lehnte die Beklagte die Gewährung einer Invalidenrente ab.
Nach der maßgebenden Versorgungsordnung der Beklagten vom 31. Dezember 1975 wird in das Versorgungswerk aufgenommen, wer bei deren Inkrafttreten in einem ungekündigten Arbeitsverhältnis stand oder danach mit der Beklagten ein Arbeitsverhältnis begründet hat, sobald er das 30. Lebensjahr vollendet und ein Kalenderjahr anrechenbare Dienstzeit abgeleistet hat. Versorgungsleistungen kann beanspruchen, wer nach Erreichen der Altersgrenze bei der Beklagten ausscheidet oder wer vor Erreichen der Altersgrenze nach einer anrechenbaren Dienstzeit von fünf Jahren wegen Erwerbsunfähigkeit ausscheidet und die Erwerbsunfähigkeit durch Vorlage des Rentenbescheides eines Sozialversicherungsträgers nachweist. Als anrechenbare Dienstzeit gilt der Zeitraum, in dem der Versorgungsberechtigte seit seinem letzten Dienstantritt bis zum Entstehen des Anspruches ohne Unterbrechung in einem Arbeits- oder Berufsausbildungsverhältnis zur Beklagten stand. Das Ruhegeld besteht aus einem monatlichen Grundbetrag in Höhe von 100,– DM und einem Steigerungsbetrag von 3,– DM für jedes abgeleistete rentenfähige Dienstjahr.
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, daß die Beklagte verpflichtet sei, ihm Invalidenrente zu gewähren. Er habe die notwendige Wartezeit erfüllt, da die Beklagte seine im Bergbau unter Tage verbrachte Dienstzeit anrechnen müsse. Das Arbeitsverhältnis sei unter Mitwirkung der Zentralstelle für den Bergmannsversorgungsschein begründet worden. Bei welchem Arbeitgeber er seine Untertagezeit zur Begründung von Versorgungsansprüchen verwende, stehe in seinem Belieben. Das Land Nordrhein-Westfalen wolle im übrigen die im Bergbau unter Tage verbrachten Zeiten nicht als Versicherungszeiten bei der VBL berücksichtigen. Nach den Berechnungsgrundsätzen der Versorgungsordnung der Beklagten schulde diese ihm Ruhegeld in Höhe von 139,– DM monatlich ab 1. Oktober 1980.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 1.390,– DM sowie ab 1. August 1980 monatlich 139,– DM zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, daß sie nicht zur Anrechnung der Bergbauzeiten verpflichtet sei. Grundsätzlich sei nur der erste Arbeitgeber anrechnungspflichtig, bei dem der Arbeitnehmer nach seinem Ausscheiden aus dem Bergbau beschäftigt werde und dienstzeitabhängige Leistungen der betrieblichen Altersversorgung erwarten könne. Einer Anrechnung stehe ferner entgegen, daß sie zur Zeit der Untertagetätigkeit des Klägers noch nicht bestanden habe. Sie habe ihren Geschäftsbetrieb erst am 14. Oktober 1975 aufgenommen. Außerdem habe der Kläger bei seiner Einstellung nicht darauf hingewiesen, daß der Inhaber eines Bergmannsversorgungsscheines ist. Sollte dem Kläger dagegen ein Wahlrecht zustehen, bei welchem Arbeitgeber er Vordienstzeiten anrechnen lassen will, so habe er dieses Wahlrecht rechtsmißbräuchlich ausgeübt. Der Kläger sei im öffentlichen Dienst 15 Jahre, bei ihr jedoch nur knapp vier Jahre beschäftigt gewesen. Man könne sich auch auf den Standpunkt stellen, daß alle Folgearbeitgeber die Untertagezeiten von Bergmannsversorgungsscheininhabern zeitanteilig entsprechend den bei ihnen verbrachten Dienstzeiten anrechnen müßten; bei dieser Auslegung des § 9 BergmannsVersorgScheinG NRW sei sie nicht anrechnungspflichtig, weil der Kläger die fünfjährige Wartezeit dann knapp verfehlt habe.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht das Urteil des Arbeitsgerichts teilweise abgeändert, soweit es dem Kläger die Versorgungsansprüche ungekürzt zugesprochen hat. Es hat die Auffassung vertreten, daß die Bergbauzeiten von den Folgearbeitgebern zeitanteilig entsprechend der jeweiligen Beschäftigungsdauer des Klägers zu berücksichtigen seien. Im übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen. Hiergegen richten sich die Revisionen des Klägers und der Beklagten, mit denen sie ihre bisherigen Klageziele weiter verfolgen.
Entscheidungsgründe
Die Revisionen sind begründet. Das Landesarbeitsgericht hat noch keine hinreichenden Feststellungen getroffen, um eine abschließende Beurteilung der Frage zuzulassen, in welchem Umfang die Beklagte zur Anrechnung früherer Untertagedienstzeiten des Klägers verpflichtet ist.
I. Der Kläger hat nach Abschnitt IV der Versorgungsordnung vom 31. Dezember 1975 Anspruch auf Invalidenrente.
Leistungsvoraussetzung ist, daß der Arbeitnehmer nach einer anrechenbaren Wartezeit von fünf Jahren vor Erreichen der Altersgrenze aus den Diensten der Beklagten scheidet und seine Erwerbsunfähigkeit nachweist. Anrechenbare Dienstzeit ist der Zeitraum, in dem der Versorgungsberechtigte seit seinem letzten Diensteintritt (Beginn der anrechenbaren Dienstzeit) bis zum Entstehen des Anspruches ohne Unterbrechung in einem Arbeits- oder Berufsausbildungsverhältnis zur Beklagten gestanden hat (Abschnitt VIII Nr. 1 Versorgungsordnung).
Der Kläger ist im Alter von 57 Jahren bei der Beklagten ausgeschieden. Seit dem 22. Februar 1980 ist er erwerbsunfähig und seit dem 1. März 1980 bezieht er Erwerbsunfähigkeitsrente. Er hat allerdings in den Diensten der Beklagten nur rund vier Jahre und acht Monate zurückgelegt. Auf die Dienstzeit des Klägers sind jedoch die im Bergbau unter Tage verbrachten Dienstzeiten anzurechnen, so daß der Kläger die fünfjährige Wartezeit erfüllt hat.
II. Die Beklagte ist kraft Gesetzes verpflichtet, bei der Betriebsrentenberechnung auch die im Bergbau unter Tage verbrachten Dienstzeiten des Klägers zu berücksichtigen.
1. a) Nach § 9 Abs. 3 des Gesetzes über den Bergmannsversorgungsschein im Lande Nordrhein-Westfalen (BergmannsVersorgScheinG NRW) sind den Inhabern eines Bergmannsversorgungsscheins im neuen Beschäftigungsbetrieb bei der Bemessung des Urlaubs, des Tariflohnes und sonstiger Leistungen oder Zuwendungen die im Bergbau unter Tage verbrachten Beschäftigungszeiten als gleichwertige Berufsjahre oder als gleichwertige Zeiten der Betriebszugehörigkeit anzurechnen.
Auf das Rechtsverhältnis der Parteien ist das Bergmannsversorgungsscheingesetz Nordrhein-Westfalen in der Fassung vom 14. April 1971 (GVBl, 125) und vom 3. Dezember 1974 (GVBl, 1504) anzuwenden. Allerdings ist am 20. Dezember 1983 eine Neufassung des Gesetzes (BVSG NW) verkündet worden. Diese Neufassung ist jedoch nach § 20 BVSG NW erst am 1. Januar 1984 in Kraft getreten, so daß entgegen der Auffassung der Revision der Senat nicht zu deren Wirksamkeit Stellung zu nehmen braucht.
b) Die Leistungen der betrieblichen Altersversorgung gehören zu den sonstigen Leistungen im Sinne von § 9 Abs. 3 BergmannsVersorgScheinG NRW. Sonstige Leistungen sind alle geldwerten Leistungen, die dem Arbeitnehmer als Vergütung im weitesten Sinne gewährt werden (vgl. Schmidt, DB 68, 2217, 2218; Warda, Der Kompaß 1973, 163, 165). Hiervon ist auch das Bundesarbeitsgericht in ständiger Rechtsprechung ausgegangen (BAG vom 8. November 1968 – 3 AZR 209/67 – AP Nr. 6 zu § 9 BergmannsVersorgScheinG NRW, zu 1 der Gründe; Urteil vom 26. Oktober 1978 – 3 AZR 604/77 – AP Nr. 15, aaO, zu I 1 der Gründe). Die Leistungen der betrieblichen Altersversorgung gehören zum Entgelt (BAG 27, 194, 202 = AP Nr. 1 zu § 87 BetrVG 1972 Altersversorgung, zu II B 3, 4 mit weiteren Nachweisen).
Demgegenüber wendet die Revision ein, der Gesetzgeber könne nicht gewollt haben, daß sich schon nach kurzer Betriebszugehörigkeit im nachbergbaulichen Arbeitsverhältnis hohe Steigerungssätze für die betriebliche Altersversorgung ergäben. Deshalb sei eine teleologische Reduktion geboten, wonach § 9 Abs. 3 BergmannsVersorgScheinG NRW die betriebliche Altersversorgung nicht erfaßt. Aber eine solche Einschränkung des Gesetzes widerspricht nicht nur dessen Wortlaut, sondern auch dessen Zweck. Im übrigen können dem Gesetzgeber die weitreichenden Folgen einer Anrechnung von Bergbauzeiten nicht verborgen geblieben sein. Sie waren aus der gefestigten Rechtsprechung zur Anrechnung von Kriegsdienstzeiten geläufig (vgl. die Entwicklung in AP Nr. 1 ff. zu § 611 BGB Kriegsdienstzeiten).
Ein so weitreichender Schutz von gesundheitsgeschädigten Bergleuten stellt auch keine verfassungswidrige “Sondersteuer” dar, wie die Revision geltend macht. Richtig ist allerdings, daß Arbeitgeber, die Bergmannsversorgungsscheininhaber beschäftigen, zusätzliche Lasten übernehmen müssen. Richtig ist ferner, daß der Grund für diesen Sonderschutz nicht in dem nachbergbaulichen Arbeitsverhältnis zu finden ist, sondern bereits vorher entstanden war. Aber das ist ein Sachverhalt, der viele besonders geschützte Arbeitnehmergruppen kennzeichnet. Schwerbehinderte und werdende Mütter, Heimkehrer und politisch Verfolgte, Jugendliche und Wehrpflichtige, sie alle haben aus Gründen in ihrer Person Anspruch auf zusätzlichen Schutz, der ihre jeweiligen Arbeitgeber belastet. Ein solcher Sonderschutz verstößt nicht gegen verfassungsrechtliche Grundsätze, wie die Revision meint.
c) Anrechnungspflichtig ist der Arbeitgeber des neuen Beschäftigungsbetriebes. Insoweit ist seit langem streitig, ob die Anrechnungspflicht nur in dem Betrieb des ersten Arbeitgebers nach dem Ausscheiden aus dem Bergbau oder auch in jedem Folgebetrieb besteht. Der Senat hat in einem ausführlich begründeten Urteil entschieden, daß jeder Folgearbeitgeber anrechnungspflichtig ist (BAG Urteil vom 26. Oktober 1978 – 3 AZR 604/77 – AP Nr. 15 zu § 9 BergmannsVersorgScheinG NRW mit Anmerkung von Boldt). Daran ist festzuhalten.
Die Revision meint, die Rechtsprechung des Senats führe im Arbeitsleben zu praktisch unüberwindlichen Schwierigkeiten. Ein Arbeitnehmer, der nach 24-jähriger Tätigkeit unter Tage aus dem Bergbau ausscheide, erhalte bereits nach jeweils einjähriger Tätigkeit außerhalb des Bergbaus eine Jubiläumszuwendung. Die Zuwendungen mehrerer nachbergbaulicher Arbeitgeber ließen sich wegen ihrer vielfältigen Ausgestaltung nicht aufeinander anrechnen. Überdies sei eine solche Mehrfachanrechnung von bergmännischen Vordienstzeiten nach dem Zweck des Gesetzes nicht geboten; dem Bergmann solle zwar die Beschäftigungszeit im Bergbau unter Tage gutgebracht, dagegen nicht seine Mobilität außerhalb des Bergbaus verbessert werden. Der Senat hält diese Kritik seiner Rechtsprechung für nicht überzeugend.
Nach der Präambel des Gesetzes sollen Bergleute besondere soziale Fürsorge erhalten, wenn sie nach längerer bergmännischer Tätigkeit mit Gesundheitsschäden aus dem Bergbau ausscheiden. Der Bergmann soll durch Anrechnung der Untertagedienstzeiten eine Berufshilfe erhalten. Wegen der regelmäßig bestehenden Dauerschäden ist die Berücksichtigung in jedem Folgearbeitsverhältnis notwendig. Dies ist offensichtlich auch die Vorstellung des Gesetzgebers, der in § 9 Abs. 3 BVSG NW (Neufassung vom 20. Dezember 1983) die Rechtsprechung des Senats übernommen und deren Ansatz weitergeführt hat. Auch die Hinweise der Revision auf praktische Schwierigkeiten sind nicht überzeugend. Die Vordienstzeiten im Bergbau sind anhand des Bergmannsbuches leicht zu ermitteln. Bereits in seiner Entscheidung vom 26. Oktober 1978 (aaO) hat der Senat darauf hingewiesen, daß der Bergmann aufgrund seiner Betriebszugehörigkeit gewährte Sozialleistungen nur einmal verlangen kann. Die daraufhin entwickelten Anrechnungsmodelle (vgl. Boldt in Anm. zur Entscheidung vom 26. Oktober 1978 – AP Nr. 15 zu § 9 BergmannsVersorgScheinG NRW) zeigen, daß zwar rechtliche Probleme, aber keine unüberwindlichen praktischen Schwierigkeiten bestehen.
d) Die im Bergbau unter Tage verbrachten Beschäftigungszeiten sind als gleichwertige Zeiten der Betriebszugehörigkeit anzurechnen. Die Gleichwertigkeit soll nach dem erkennbaren Ziel des Gesetzes am neuen Arbeitsplatz außerhalb des Bergbaus hergestellt werden. Der Arbeitnehmer soll so behandelt werden, als hätte er die Betriebszugehörigkeit, die tatsächlich im Bergbau verbracht wurde, in Wahrheit bei seinem neuen Arbeitgeber zurückgelegt (BAG vom 15. Mai 1984 – 3 AZR 520/81 – zu II 3 c) der Gründe, zur Veröffentlichung vorgesehen).
Hieraus folgt entgegen der Auffassung der Revision nicht, daß die Anrechnungspflicht davon abhinge, ob der neue Arbeitgeber zur Zeit der Untertagearbeit des Arbeitnehmers schon bestand. Das Gesetz will sicherstellen, daß die im Bergbau unter Tage verbrachte Berufszeit nicht wertlos verbraucht ist, wenn der Inhaber eines Bergmannsversorgungsscheines den Bergbau verläßt. Der Arbeitgeber muß diesen mithin so behandeln, als ob er schon während seiner Untertagedienstzeit in seinen Diensten gestanden hätte.
Die Revision kann sich demgegenüber nicht auf ein Urteil des Fünften Senats vom 12. August 1965 (BAG 17, 269, 274 = AP Nr. 5 zu § 9 BergmannsVersorgScheinG NRW, Bl. 3 vor 6) berufen. Allerdings heißt es in dieser Entscheidung, der Gesetzgeber habe eine Gleichstellung des neu eintretenden Inhabers eines Bergmannsversorgungsscheines mit älteren Betriebsarbeitnehmern gewollt (BAG Urteil vom 12. August 1965, aaO). Der Streit ging aber nur darum, daß Arbeitnehmer nach zehnjähriger Betriebszugehörigkeit Anspruch auf ein Treuegeld hatten, dessen Höhe sich nach der Betriebszugehörigkeit richtete. Der Fünfte Senat wollte klarstellen, daß die Bergbauzeit auch auf die Wartezeit angerechnet werden mußte. Damit sollte aber nicht der Bestand des Betriebes verlangt werden.
Ebenso wenig kann die Revision etwas aus der Entscheidung des Senats vom 23. November 1973 (– 3 AZR 153/73 – AP Nr. 22 zu § 611 BGB Kriegsdienstzeiten) ableiten. In dieser Entscheidung hat der Senat zu § 3 VO über Fürsorge für Soldaten und Arbeitsmänner i.d.F. vom 29. Dezember 1937 (RGBl I, 1417) ausgeführt, daß ehemaligen Soldaten nicht schlechthin alle Zeiten des Kriegsdienstes und der Kriegsgefangenschaft anzurechnen seien. Vielmehr solle durch die Anrechnung nur erreicht werden, daß Kriegsteilnehmer gegenüber solchen Arbeitnehmern, die nicht eingezogen waren, keine Nachteile erleiden. Die Zielsetzung der Kriegsdienstverordnung unterscheidet sich insoweit von der des § 9 Abs. 3 BergmannsVersorgScheinG NRW, dessen Schutzzweck weitergeht.
III. Der Kläger kann jedoch keine Mehrfachanrechnung der unter Tage verbrachten Vordienstzeiten verlangen. In welchem Umfange die Beklagte die im öffentlichen Dienst erworbenen Versorgungsbezüge berücksichtigen darf, erfordert eine weitere Aufklärung des Sachverhalts.
1. Das Landesarbeitsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, daß der Inhaber eines Bergmannsversorgungsscheines nur einmal die Berücksichtigung derselben Vordienstzeiten verlangen kann. Das entspricht der Rechtsprechung des Senats (BAG Urteil vom 26. Oktober 1978 – 3 AZR 604/77 – AP Nr. 15 zu § 9 BergmannsVersorgScheinG NRW mit zustimmender Anmerkung von Boldt). Die im Bergbau unter Tage verbrachten Dienstzeiten sollen zwar nicht verloren sein; das bedeutet jedoch nicht, daß der Inhaber eines Bergmannsversorgungsscheines kumulativ mehrere Versorgungsansprüche aufgrund derselben Beschäftigungszeit erwerben kann. § 9 Abs. 3 BergmannsVersorgScheinG NRW enthält eine Regelungslücke, für den Fall, daß mehrere Arbeitgeber Vordienstzeiten anrechnen müssen. Wie diese Regelungslücke zu schließen ist, hat der Senat bislang offengelassen.
2. a) Das Problem der Mehrfachanrechnung kann sich nur ergeben, wenn ein Arbeitnehmer nach der Abkehr aus dem Bergbau bei mehreren Arbeitgebern nacheinander beschäftigt war und wiederholt unverfallbare Versorgungsanwartschaften erwerben konnte. Bei der Berechnung der Unverfallbarkeitsfristen sind die anrechnungspflichtigen Untertagezeiten bei jedem neuen Arbeitgeber erneut zu berücksichtigen (BAG vom 15. Mai 1984 – 3 AZR 207/82 – zur Veröffentlichung vorgesehen). Jeder Folgearbeitgeber ist bei der Beendigung des Arbeitsverhältnisses verpflichtet, den Wert der Versorgungsanwartschaft nach den Berechnungsgrundsätzen von § 2 BetrAVG zu berücksichtigen.
Doppelversorgungen sind dadurch vermeidbar, daß die verschiedenen Arbeitgeber bei der Berechnung der unverfallbaren Versorgungsanwartschaften jeweils früher erworbene Versorgungsrechte teilweise anrechnen. Das Gesetz läßt das zu, soweit die Versorgungsrechte aus früheren Arbeitsverhältnissen zeitanteilig auf dieselben anrechnungspflichtigen Untertagezeiten entfallen. Das bedeutet, daß sich eine Mehrfachanrechnung auf die Vergütungshöhe nur dann auswirken kann, wenn ein späterer Arbeitgeber über frühere Versorgungszusagen hinausgeht. Im Ergebnis ist gewährleistet, daß sich die jeweils günstigste Versorgungsordnung voll auswirkt. Allerdings verteilt sich die Versorgungslast unter den verschiedenen Arbeitgebern ausschließlich nach der zeitlichen Reihenfolge der Arbeitsverhältnisse. Je länger die Abkehr des Arbeitnehmers vom Bergbau zurückliegt, desto geringer wirkt sich die Bergbauzeit versorgungssteigernd aus.
b) Dagegen vermag der Senat den im Schrifttum entwickelten Modellen zur Vermeidung einer Mehrfachanrechnung nicht zu folgen.
(1) Boldt ist der Ansicht, daß schon nach einer einzigen Anrechnung von Untertagedienstzeiten die Anrechnungsmöglichkeit für alle folgenden Arbeitsverhältnisse verbraucht sei (Boldt in Anm. zu BAG AP Nr. 15 zu § 9 BergmannsVersorgScheinG NRW). Das läuft in etwas abgemilderter Form auf die These hinaus, daß nur der erste Arbeitgeber nach der Abkehr des Arbeitnehmers aus dem Bergbau Untertagezeiten anrechnen muß. Der Schutzzweck des § 9 Abs. 3 BermannsVersorgScheinG NRW reicht jedoch weiter, wie bereits ausgeführt wurde (vgl. vorstehend unter II 1 c).
(2) Auch dem von Schumann (DB 1983, 118) entwickelten Anrechnungsmodell, dem sich das Landesarbeitsgericht angeschlossen hat, kann nicht gefolgt werden. Danach soll jeder Nachbergbauarbeitgeber, der Ruhegeldleistungen erbringt, eine seiner Beschäftigungszeit entsprechende Quote der Untertagedienstzeit berücksichtigen. Dieses Lösungsmodell hat zur Folge, daß bei Beendigung eines Arbeitsverhältnisses, in dem der Arbeitnehmer eine unverfallbare Versorgungsanwartschaft erworben hat, eine Berechnung der Versorgungsanwartschaft unmöglich ist. Der Arbeitgeber kann regelmäßig nicht voraussagen, in welchem Umfang der Arbeitnehmer noch Versorgungsrechte erwerben wird. Diese Unklarheit widerspricht den Zielen des Betriebsrentengesetzes, das eine Abklärung der versorgungsrechtlichen Lage bei der Beendigung eines jeden Arbeitsverhältnisses sicherstellen will. Deshalb hat der ausscheidende Arbeitnehmer Anspruch auf Auskunft über den Wert seiner unverfallbaren Anwartschaft (§ 2 Abs. 6 BetrAVG). Nach § 2 Abs. 5 BetrAVG müssen bei der Berechnung des Wertes der unverfallbaren Versorgungsanwartschaft Veränderungen der Versorgungsregelungen und der Bemessungsgrundlagen unberücksichtigt bleiben.
(3) Soweit schließlich die Revision meint, die Mehrfachanrechnung sei zu vermeiden, wenn jeder Folgearbeitgeber die Bergbauzeit nur mit dem Bruchteil berücksichtige, der der bei ihm verbrachten Beschäftigungszeit im Verhältnis zu der gesamtmöglichen Beschäftigungszeit des Arbeitnehmers entspreche, läßt sie außer acht, daß jeder nachbergbauliche Arbeitgeber des Bergmannsversorgungsscheininhabers anrechnungspflichtig ist. Außerdem führt sie zu erheblicher Rechtsunsicherheit, wenn der Inhaber des Bergmannsversorgungsscheines wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit vorzeitig aus dem Arbeitsleben ausscheiden muß.
c) Das Landesarbeitsgericht muß noch ermitteln, in welchem Umfang die Beklagte Versorgungsleistungen des Landes Nordrhein-Westfalen bzw. der Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder bei ihren Ruhegeldleistungen berücksichtigen darf. Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend erkannt, daß auch der Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes zur Anrechnung von Bergbauzeiten verpflichtet ist. Das ist in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts wiederholt ausgesprochen worden (BAG Urteil vom 18. September 1974 – 5 AZR 18/74 – AP Nr. 10 zu § 9 BergmannsVersorgScheinG NRW; vom 20. Oktober 1976 – 5 AZR 507/75 – AP Nr. 13 zu § 9 BergmannsVersorgScheinG NRW). Für das Finanzamt, bei dem der Kläger beschäftigt war, bevor er in die Dienste der Beklagten trat, kann nichts anderes gelten. Ob sich die VBL aufgrund ihrer Satzungsbestimmungen weigert, die im Privatdienst zurückgelegten Vordienstzeiten zu versichern, ist unerheblich. Durch Satzungsrecht der VBL kann Landesrecht nicht berührt werden. Sollte eine VBL-Rente nicht ausgezahlt werden, müßte das Land NordrheinWestfalen selbst für die entsprechenden Versorgungsleistungen einstehen (BAG 22, 92, 95 = AP Nr. 2 zu § 242 BGB Ruhegehalt VBL, zu I der Gründe). Denn der Arbeitgeber haftet dafür, daß die an seiner Stelle tätige Versorgungseinrichtung den gesetzlichen und tariflichen Pflichten genügt.
IV. Hingegen muß das Landesarbeitsgericht nicht aufklären, ob der Kläger seinen Bergmannsversorgungsschein bei der Einstellung verschwiegen hat. Die Berücksichtigung von Vordienstzeiten bei der Gewährung von Sozialleistungen hängt nicht von einem Hinweis des Arbeitnehmers ab, er sei Inhaber eines Bergmannsversorgungsscheines. Hiervon ist das Landesarbeitsgericht zu Recht ausgegangen.
Das Bundesarbeitsgericht hat allerdings in einer älteren Entscheidung angenommen, Inhaber eines Bergmannsversorgungsscheines könnten sich nur dann auf den gesonderten Kündigungsschutz für bergfertige Bergleute berufen, wenn sie bei der Begründung des Arbeitsvertrages die Rechte aus dem Gesetz geltend gemacht hätten und der Beschäftigungsbetrieb einstellungspflichtig sei (BAG Urteil vom 9. Februar 1956 – 2 AZR 176/55 – AP Nr. 1 zu § 10 BergmannsVersorgScheinG NRW). Diese Rechtsprechung läßt sich jedoch auf den vorliegenden Fall nicht übertragen.
Nach dem Wortlaut von § 9 Abs. 3 BergmannsVersorgScheinG NRW gestaltet sich der Inhalt der geschützten Arbeitsverhältnisse unabhängig davon, ob der Arbeitnehmer sich bei der Einstellung auf die Anrechnungspflicht des Arbeitgebers beruft. Das, was möglicherweise für den Kündigungsschutz eines Arbeitsverhältnisses galt oder noch gelten mag, paßt nicht ohne weiteres für den Inhaltsschutz. Überdies ist die Rechtsprechung des Zweiten Senats wiederholt vom Gesetzgeber korrigiert worden. Durch das dritte Gesetz zur Änderung des Gesetzes über einen Bergmannsversorgungsschein vom 30. März 1971 (GVNW, 124) ist § 12a BergmannsVersorgScheinG NRW in das Gesetz eingefügt worden, wonach die Rechte aus einem Bergmannsversorgungsschein unabhängig von der Einstellungspflicht geltend gemacht werden können. Darüber hinaus kann ein Bergmannsversorgungsschein noch zu einem Zeitpunkt beantragt werden, in dem ein neues Arbeitsverhältnis außerhalb des Bergbaus längst begründet wurde (§ 1 Abs. 3 Satz 2 BergmannsVersorgScheinG NRW i.d.F. vom 14. April 1971). Es ist demnach unerheblich, ob der Kläger bei Begründung des Arbeitsverhältnisses auf seinen Bergmannsversorgungsschein hingewiesen hat. Ob das Gleiche gilt, wenn ein Arbeitnehmer seinen Arbeitgeber bei der Einstellung über den Besitz des Bergmannsversorgungsscheines täuscht (vgl. auch BAG 5, 159 = AP Nr. 2 zu § 123 BGB; BAG Urteil vom 25. März 1976 – 2 AZR 136/75 – AP Nr. 19 zu § 123 BGB) kann unentschieden bleiben, weil der festgestellte Sachverhalt dafür keine Anhaltspunkte bietet.
Unterschriften
Dr. Dieterich, Schaub, Griebeling, Gnade, Dr. Menzel
Fundstellen
Haufe-Index 1458822 |
BAGE, 25 |