Entscheidungsstichwort (Thema)
Abändernde Betriebsvereinbarung über Entgeltfortzahlung
Leitsatz (amtlich)
Ansprüche aus einer Betriebsvereinbarung über eine längerfristige Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall begründen für die Arbeitnehmer keinen rechtlich geschützten Besitzstand. Die Verschlechterung der Ansprüche durch eine nachfolgende Betriebsvereinbarung ist rechtlich in der Regel unbedenklich.
Normenkette
BetrVG § 50 Abs. 1, § 77 Abs. 3; GG Art. 14 Abs. 1, Art. 20; ZPO § 256; BetrVG § 87 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
1. Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg vom 26. April 1999 – 15 Sa 136/98 – wird zurückgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über Ansprüche der Klägerin im Krankheitsfall.
Die Klägerin ist seit dem 1. August 1989 bei der Beklagten beschäftigt. Ihr Monatsgehalt beträgt 6.500,00 DM brutto. Nach dem Arbeitsvertrag der Parteien richten sich die „Arbeitsbedingungen … nach den ‚Allgemeinen Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr’ und Betriebsvereinbarungen in den jeweils gültigen Fassungen”. Die „Allgemeinen Arbeitsbedingungen” (AAB) werden als „Kollektiver Vertrag” zwischen dem geschäftsführenden Hauptvorstand der Beklagten und dem bei ihr gebildeten Gesamtbetriebsrat vereinbart. Bei Vertragsschluß galten sie in der Fassung vom 31. Oktober 1985. Diese sah in § 16 folgende Regelungen vor:
„(1) Bei Arbeitsunfähigkeit wird die Vergütung wie folgt weiter gezahlt:
Bei einer Beschäftigungszeit
bis zu 3 Jahren |
6 Wochen, |
von mehr als 3 Jahren |
13 Wochen, |
von mehr als 5 Jahren |
26 Wochen. |
(2) Beschäftigte erhalten bei einer Beschäftigungszeit
von mehr als 8 Jahren für weitere |
13 Wochen, |
von mehr als 10 Jahren für weitere |
26 Wochen, |
von mehr als 15 Jahren für weitere |
52 Wochen |
einen Zuschuß in Höhe des Unterschiedsbetrages vom Krankengeld zur Nettovergütung, soweit eine Krankenversicherung mit Anspruch auf Barleistungen abgeschlossen wurde. Bei privat versicherten Beschäftigten wird als Krankengeld der Betrag zugrunde gelegt, der bei Versicherung bei der örtlich zuständigen Krankenkasse gezahlt würde. Der Zuschuß wird nur bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses gezahlt.”
Mit Wirkung vom 1. Juli 1997 vereinbarten geschäftsführender Hauptvorstand und Gesamtbetriebsrat eine Neufassung der AAB. Die Regelung in § 16 lautet seitdem wie folgt:
„(1) Bei Arbeitsunfähigkeit wird die Vergütung für die Dauer von 6 Wochen weitergezahlt.
(2) Beschäftigte erhalten bei einer Beschäftigungszeit
von mehr als 3 Jahren für weitere |
7 Wochen |
von mehr als 5 Jahren für weitere |
20 Wochen |
von mehr als 8 Jahren für weitere |
33 Wochen |
von mehr als 10 Jahren für weitere |
46 Wochen |
von mehr als 15 Jahren für weitere |
72 Wochen |
einen Zuschuß in Höhe des Unterschiedsbetrages vom Krankengeld zur Nettovergütung, soweit eine Krankenversicherung mit Anspruch auf Barleistungen abgeschlossen wurde. Bei privat versicherten Beschäftigten wird als Krankengeld der Betrag zugrunde gelegt, der bei Versicherung bei der örtlich zuständigen Krankenkasse gezahlt würde. Der Zuschuß wird nur bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses gezahlt.”
Die Klägerin ist gegen Krankheit privat versichert. Mit ihrer Klage macht sie geltend, falls die neuen AAB auf ihr Arbeitsverhältnis Anwendung fänden, müsse sie ihre Krankenversicherung umstellen und einen um 100,00 DM höheren Monatsbeitrag zahlen. Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, auf Grund ihrer durch die Anrechnung von Vordienstzeiten über 15-jährigen Beschäftigungsdauer habe sie hinsichtlich der Entgeltfortzahlung einen Besitzstand erworben, der ihr nicht mehr habe entzogen werden können. Die Neufassung der AAB müsse an dem im Bereich der betrieblichen Altersversorgung geltenden Maßstab gemessen werden und halte einer solchen Kontrolle nicht stand.
Die Klägerin hat beantragt
festzustellen, daß ihr im Krankheitsfalle Anspruch auf Lohnfortzahlung entsprechend den Allgemeinen Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr vom 31. Oktober 1985 zusteht.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat vorgetragen, die Kürzung der Mittel für die Entgeltfortzahlung habe der Konsolidierung ihrer Finanzen gedient. Sie hat die Ansicht vertreten, die AAB hätten tarifvertragsersetzende Funktion. Für ihre Änderung gälten deshalb die Grundsätze der Ablösung eines Tarifvertrags durch einen anderen. Danach löse die jüngere Regelung die ältere ab. Selbst wenn die Neufassung der AAB an den Grundsätzen für die Änderung von Betriebsvereinbarungen zu messen sei, erweise sie sich der Klägerin gegenüber als wirksam.
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihr Klageziel weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Die Vorinstanzen haben die Klage zu Recht abgewiesen. Die Klägerin hat im Krankheitsfalle keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung nach den AAB von 1985. Die Neufassung des § 16 AAB zum 1. Juli 1997 ist wirksam und gilt auch für die Klägerin.
A. Die Klage ist zulässig. Die Klägerin hat an der begehrten Feststellung ein rechtliches Interesse iSd. § 256 ZPO. Die Parteien streiten über den Umfang von Ansprüchen der Klägerin im Krankheitsfalle. Zwischen ihnen ist damit der Inhalt ihres Arbeitsverhältnisses streitig. Ein solcher Streit kann Gegenstand einer Feststellungsklage sein(BAG 16. September 1998 – 5 AZR 181/97 – BAGE 89, 376; 11. Februar 1998 – 5 AZR 472/97 – AP BGB § 611 Direktionsrecht Nr. 54 = EzA BGB § 325 Nr. 48). Die Klägerin hat ein berechtigtes Interesse daran, daß der Umfang ihrer Ansprüche alsbald geklärt werde. Sie kann nicht darauf verwiesen werden, zunächst den Eintritt einer über sechs Wochen hinausgehenden Erkrankung abzuwarten. Vom Ausgang des Streits hängt schon jetzt die Frage ab, ob sie Anlaß hat, ihren Versicherungsschutz umzustellen.
B. Die Klage ist nicht begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung nach § 16 AAB 1985. Die Vorschrift ist wirksam durch § 16 AAB 1997 abgelöst worden.
I. Die Klägerin muß die Neuregelung nicht schon deswegen gegen sich gelten lassen, weil der Arbeitsvertrag der Parteien auf die AAB in der jeweils gültigen Fassung Bezug nimmt. Zwar ist eine solche dynamische Verweisung im Arbeitsvertrag zulässig, doch begibt sich der Arbeitnehmer damit nicht der Möglichkeit, die Wirksamkeit der in Bezug genommenen Kollektivnorm in Frage zu stellen. Mit der Verweisung auf noch unbekannte und nur mögliche künftige Regelungen geht nicht ein vertraglicher Verzicht einher, die formelle und materielle Rechtmäßigkeit einer späteren Regelung überprüfen zu lassen.
Diese Überprüfung selbst richtet sich nicht nach den Maßstäben vertraglicher Inhaltskontrolle, sondern folgt den Grundsätzen für die Wirksamkeitskontrolle kollektiver Normen(für den Fall einer Bezugnahme auf tarifvertragliche Regelungen BAG 25. Februar 1998 – 7 AZR 641/96 – BAGE 88, 118, 124).
II. Die Änderung der AAB zum 1. Juli 1997 ist formell wirksam. Für die darin getroffenen Regelungen war der Gesamtbetriebsrat der Beklagten gemäß § 50 Abs. 1 BetrVG zuständig. Die Bestimmungen konnten sinnvollerweise nur unternehmenseinheitlich getroffen werden. Die Beklagte als Gewerkschaft kann mangels eines Tarifpartners Tarifverträge über die Arbeitsbedingungen ihrer Beschäftigten nicht abschließen(BAG 17. Februar 1998 – 1 AZR 364/97 – BAGE 88, 38). Auch sie muß aber eine Möglichkeit haben, einheitliche Arbeitsbedingungen zu schaffen. Damit entsprechende Regelungen tarifersetzende Funktion entfalten können, müssen sie unternehmenseinheitlich Geltung erlangen. Dies eröffnet die Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrats, nicht nur für Angelegenheiten der freiwilligen Mitbestimmung, sondern auch insoweit, als mitbestimmungspflichtige Tatbestände berührt sind(BAG 14. Dezember 1999 – 1 ABR 27/98 – AP BetrVG 1972 § 87 Lohngestaltung Nr. 104).
Da für die Beschäftigten von Gewerkschaften keine Tarifverträge abgeschlossen werden, steht den Regelungen der AAB über die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall weder der Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 BetrVG noch – soweit mitbestimmungspflichtig – der Tarifvorrang des § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG entgegen.
III. Die Neufassung von § 16 AAB ist auch materiell wirksam.
1. Bei den AAB 1995 und 1997 handelt es sich um Gesamtbetriebsvereinbarungen. Daß ihnen tarifersetzende Funktion zukommt, läßt ihren normativen Status als Betriebsvereinbarungen unberührt. Die Wirksamkeit von § 16 AAB 1997 ist deshalb anhand der Kontrollmaßstäbe bei Ablösung einer Betriebsvereinbarung durch eine nachfolgende Betriebsvereinbarung zu überprüfen.
2. Regeln zwei gleichrangige Normen denselben Gegenstand und ist ihr Adressatenkreis der gleiche, so gilt für diese Konkurrenz grundsätzlich die sog. Zeitkollisionsregel: Die jüngere Norm löst die ältere ab; nur die jüngere kommt für die Zukunft zur Geltung. Diese Regel findet nicht nur im Verhältnis von Gesetzen und Tarifverträgen untereinander Anwendung, sondern auch im Verhältnis von zwei aufeinanderfolgenden Betriebsvereinbarungen(BAG 16. September 1986 – GS 1/82 – BAGE 53, 42, 69; Fitting/Kaiser/Heither/Engels BetrVG 20. Aufl. § 77 Rn. 163 mwN).
Die jüngere Norm gilt regelmäßig auch dann, wenn die bisherige Norm für die Arbeitnehmer günstiger war. Gesetzgeber, Tarifvertragsparteien und Betriebsparteien sind grundsätzlich nicht gehindert, Leistungsansprüche von Arbeitnehmern für die Zukunft zu verschlechtern(BAG 19. Januar 1999 – 1 AZR 499/98 – BAGE 90, 316; Fitting/Kaiser/Heither/Engels aaO). Grenzen ergeben sich, wenn dadurch grundrechtlich geschützte Positionen der Arbeitnehmer berührt und das Verhältnismäßigkeitsprinzip oder Grundsätze des Vertrauensschutzes verletzt werden. Deshalb unterliegen insbesondere Betriebsvereinbarungen, die Versorgungsansprüche aus einer früheren Betriebsvereinbarung einschränken, einer entsprechenden Rechtskontrolle(BAG 16. Juli 1996 – 3 AZR 398/95 – BAGE 83, 293, 297).
3. Die AAB 1997 haben die rechtliche Stellung länger beschäftigter und privat gegen Krankheit versicherter Mitarbeiter verschlechtert. Bislang erhielten Mitarbeiter der Beklagten bei einer Beschäftigungszeit von mehr als fünf Jahren 26 Wochen Entgeltfortzahlung; waren sie, wie die Klägerin, länger als 15 Jahre beschäftigt, gewährte die Beklagte bis zu weiteren 52 Wochen einen Zuschuß zum Krankengeld. Nach § 16 AAB 1997 wird das Entgelt auch für Längerbeschäftigte nur noch für sechs Wochen fortgezahlt; Mitarbeitern, die länger als 15 Jahre beschäftigt sind, gewährt die Beklagte bis zu weiteren 72 Wochen einen Zuschuß zum Krankengeld. Damit erhalten länger beschäftigte Arbeitnehmer im Krankheitsfall zwar weiterhin ggf. 78 Wochen lang Gesamtbezüge bis zur Höhe ihrer Nettovergütung, sind sie aber privat gegen Krankheit versichert, müssen sie nunmehr entweder schon ab der sechsten – und nicht erst ab der 27. – Krankheitswoche eine Krankentagegeld-Versicherung abschließen oder sich mit dem Zuschußbetrag zum fingierten gesetzlichen Krankengeld begnügen.
4. Gleichwohl wurden rechtlich geschützte Positionen der Klägerin durch die Neufassung von § 16 AAB nicht rechtswidrig verletzt.
a) Die Klägerin trat in die Dienste der Beklagten unter Geltung der AAB 1985. Nach der Regelung in § 16 Abs. 1 stand ihr im Krankheitsfall – auf Grund ihrer anrechenbaren Vordienstzeiten von Beginn des Arbeitsverhältnisses an – Entgeltfortzahlung bis zur Dauer von 26 Wochen zu. Zwar kann angenommen werden, daß die Betriebsparteien auf diese Weise die Betriebstreue der Arbeitnehmer belohnen wollten, die Klägerin hat dadurch aber keine grundrechtlich geschützte eigentumsähnliche Position erworben, in die nur ganz ausnahmsweise aus besonders gewichtigen Gründen eingegriffen werden könnte. Die in § 16 Abs. 1 AAB 1985 vorgesehene Dauer des Anspruchs auf Entgeltfortzahlung stellt keinen erdienten und von Art. 14 GG erfaßten rechtlichen Besitzstand dar. Eine solche Annahme würde voraussetzen, daß es sich um einen Anspruch handelte, der vom künftigen Fortbestand des Arbeitsverhältnisses zur Beklagten unabhängig wäre. Die Klägerin müßte einen Leistungsanspruch bereits „unverfallbar” erworben haben, wie dies etwa im Rahmen der betrieblichen Altersversorgung der Fall sein kann. In der betrieblichen Altersversorgung werden bereits vor Eintritt des Versorgungsfalls Anwartschaften erdient und begründet, die dem Verhältnis zwischen der insgesamt erwarteten Betriebszugehörigkeit und der bereits geleisteten Dienstzeit entsprechen. Sie bleiben nach Maßgabe von § 1 Abs. 1 BetrAVG auch dann bestehen, wenn das Arbeitsverhältnis vor Eintritt des Versorgungsfalls endet. In bereits erdiente Anwartschaften können spätere Änderungen der jeweiligen Versorgungsordnung nur in Ausnahmefällen eingreifen(vgl. BAG 16. Juli 1996 aaO mwN).
Was für Versorgungsansprüche gilt, kann zwar auch für Ansprüche auf andere Sozialleistungen in Betracht kommen(BAG 16. September 1986 aaO). Mit Blick auf verlängerte Entgeltfortzahlungsansprüche ist dies jedoch nicht der Fall. Die von der Beklagten nach Maßgabe von § 16 Abs. 1 AAB 1985 versprochenen Leistungen für den Fall einer Arbeitsunfähigkeit von mehr als sechs Wochen sind an den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses gebunden. Endet das Arbeitsverhältnis der Klägerin, so bestehen keine Leistungsverpflichtungen der Beklagten mehr. Die von der Klägerin erworbene Anspruchsposition begründet deshalb keinen über das Ende des Arbeitsverhältnisses hinausreichenden Besitzstand, sie hat keinen eigentumsähnlichen Vermögenswert. Es ist vielmehr völlig ungewiß, ob der Anspruch auf die übergesetzlichen Leistungen selbst bei Fortbestand des Arbeitsverhältnisses bis zur Altersgrenze jemals entstehen wird. Dazu müßte die Klägerin zumindest einmal länger als sechs Wochen krankheitsbedingt arbeitsunfähig sein. Mit der Anspruchsposition selbst ist kein Vermögenswert verbunden.
Für die Dauer des Bestehens des Arbeitsverhältnisses hat diese Position allenfalls einen mittelbaren Vermögenswert. Sie ermöglicht es der Klägerin, eine private Krankentagegeld-Versicherung zu günstigeren Bedingungen als bei einer kürzeren Entgeltfortzahlungsdauer abzuschließen. Darin liegt zwar ein wirtschaftlicher Vorteil, dennoch stellt der betreffende Anspruch keine in ihrem Bestand geschützte und künftige Verschlechterungen ausschließende Rechtsposition dar.
b) Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wurde bei der Änderung des § 16 AAB 1985 nicht verletzt. Danach müssen Eingriffe in Besitzstände der Arbeitnehmer – am Zweck der Maßnahme gemessen – geeignet, erforderlich und proportional sein(BAG 3. November 1987 – 8 AZR 316/81 – BAGE 56, 289, 298).
Hier wäre ein Eingriff durch die Neuregelung sachlich begründet und nicht unverhältnismäßig. Die Beklagte hat unwidersprochen vorgetragen, die Änderung von § 16 AAB habe der Konsolidierung ihrer Finanzen gedient. Die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall über sechs Wochen hinaus stellte eine finanzielle Belastung der Beklagten dar und kam überwiegend den gesetzlichen Krankenkassen zugute: Die Zahlung von Arbeitseinkommen führt zum Ruhen des Anspruchs auf Krankengeld gemäß § 48 Abs. 3, § 49 Abs. 1 Nr. 1 SGB V. Die Ersetzung der vollen Entgeltfortzahlung durch die Zahlung eines Zuschusses zum Krankengeld – die den Anspruch auf Krankengeld unberührt läßt, § 49 Abs. 1 Nr. 1 SGB V – entlastet die Beklagte, ohne bei ihren gesetzlich versicherten Arbeitnehmern zu einer Nettoentgelteinbuße zu führen. Bei privat versicherten Beschäftigten entstand zwar die Notwendigkeit, den Versicherungsschutz hinsichtlich eines Krankentagegeldes dem geänderten Gehaltsfortzahlungszeitraum anzupassen, wenn nicht eine entsprechende Versicherungslücke in Kauf genommen werden sollte. Im Falle der Klägerin hatte dies aber lediglich eine monatliche Mehrbelastung von 100,00 DM zur Folge, die die Beklagte gemäß § 257 Abs. 2 SGB V überdies zur Hälfte zu übernehmen hat. Angesichts dessen handelt es sich bei der Neufassung von § 16 Abs. 1 AAB um eine zur Zweckerreichung geeignete und im Rahmen des Erforderlichen bleibende Maßnahme, die selbst dann zu keiner überproportionalen Belastung der Klägerin geführt hätte, wenn durch sie geschützte Rechtspositionen betroffen worden wären.
c) Die Neuregelung der Entgeltfortzahlung in § 16 AAB 1997 ist schließlich auch unter dem Gesichtspunkt eines Rückwirkungsverbots nicht zu beanstanden. Die Beschränkung der Rückwirkung von Gesetzen und sonstiger Rechtsnormen beruht außerhalb des Art. 14 Abs. 1 GG auf dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG(BVerfG 15. Oktober 1996 – 1 BvL 44, 48/92 – BVerfGE 95, 64, 86). Die Regeln über die Rückwirkung von Rechtsnormen unterscheiden zwischen echter und unechter Rückwirkung. Eine echte Rückwirkung liegt vor, wenn eine Rechtsnorm nachträglich ändernd in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreift. Sie ist verfassungsrechtlich grundsätzlich unzulässig(BVerfG aaO mwN). § 16 AAB 1997 kommt eine echte Rückwirkung nicht zu. Die Regelung greift nicht in abgeschlossene Tatbestände von Entgeltfortzahlung nachträglich ändernd ein.
Unechte Rückwirkung liegt vor, wenn eine Rechtsnorm auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen einwirkt und damit zugleich die betroffene Rechtsposition nachträglich entwertet. Sie ist verfassungsrechtlich grundsätzlich zulässig(BVerfG aaO mwN). Grenzen der Zulässigkeit können sich aus dem Grundsatz des Vertrauensschutzes und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip ergeben. Das ist dann der Fall, wenn die vom Normgeber angeordnete unechte Rückwirkung zur Erreichung des Normzwecks nicht geeignet oder nicht erforderlich ist oder wenn die Bestandsinteressen der Betroffenen die Veränderungsgründe der Neuregelung überwiegen(BVerfG aaO). § 16 AAB 1997 entfaltete im Falle der Klägerin auch keine unechte Rückwirkung. Die Vorschrift wirkte im Zeitpunkt ihres Inkrafttretens nicht auf eine gegenwärtige Anspruchsbeziehung im Zusammenhang mit krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit ein. Sie konnte für die Klägerin nur für mögliche künftige Krankheitsfälle relevant werden.
Im übrigen wäre die Regelung auch dann wirksam, wenn ihr unechte Rückwirkung zukäme. Ein schutzwürdiges Vertrauen der Klägerin wurde durch sie nicht verletzt. Die Klägerin durfte nicht annehmen, ihre durch § 16 AAB 1985 begründete Rechtsposition werde durch die Betriebsparteien zu keiner Zeit zu ihren Ungunsten verändert werden. Für ein solches Vertrauen gab es keinen sachlich begründeten Anlaß. Auch wenn unterstellt wird, die Regelungen zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall seien ein der Beklagten bekannter Beweggrund der Klägerin für die Eingehung des Arbeitsverhältnisses gewesen, konnte die Klägerin nicht davon ausgehen, es würde auch in Zukunft unter allen Umständen bei diesen Regelungen bleiben. Ebensowenig lag ein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vor. Wie ausgeführt, hält sich die Neuregelung im Rahmen dessen, was zur Erreichung des Normzwecks geeignet und erforderlich ist. Wegen geringer wirtschaftlicher Auswirkungen treten die Bestandsinteressen der Klägerin hinter die Gründe für die Neuregelung zurück.
Im Krankheitsfall hat die Klägerin Ansprüche auf Entgeltfortzahlung nach Maßgabe von § 16 AAB 1997. Die Klage ist unbegründet.
Unterschriften
Griebeling, Müller-Glöge, Kreft, Ackert, W. Hinrichs
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 15.11.2000 durch Brüne, Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
Haufe-Index 614703 |
BAGE, 249 |
BB 2000, 2636 |
BB 2001, 1412 |
DB 2000, 2383 |
DB 2001, 1835 |
NWB 2000, 4734 |
EBE/BAG 2001, 110 |
ARST 2001, 222 |
ARST 2001, 46 |
FA 2001, 27 |
FA 2001, 281 |
NZA 2001, 900 |
SAE 2001, 283 |
AP, 0 |
AuA 2001, 37 |
PERSONAL 2001, 710 |
ZMV 2001, 43 |
RdW 2001, 534 |
AuS 2000, 57 |