Entscheidungsstichwort (Thema)
verlängerte Kündigungsfristen für ältere Arbeiter
Leitsatz (redaktionell)
Verfassungswidrigkeit einer Kündigungsfrist nach 10-jähriger Betriebs Zugehörigkeit – hier Haustarifvertrag (Fortsetzung der Rechtsprechung im Teilurteil vom 29. August 1991 – 2 AZR 220/91 – (A) – AP Nr. 32 zu § 622 BGB)
Normenkette
BGB § 622
Verfahrensgang
LAG Niedersachsen (Urteil vom 04.02.1993; Aktenzeichen 9 Sa 836/92) |
ArbG Braunschweig (Urteil vom 25.02.1992; Aktenzeichen 1 Ca 380/91) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 4. Februar 1993 – 9 Sa 836/92 – aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Der Kläger war seit dem 9. September 1980 als Montagewerker bei der Beklagten mit einem Bruttolohn von zuletzt 3.551,– DM beschäftigt. Die Beklagte stellt Pkws und Transporter her; sie beschäftigt in der Produktion nach dem Stand vom 31. Dezember 1990 93.493 Arbeiter und im Verwaltungssektor weitere 7.819 Arbeiter.
Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis zum Kläger mit Schreiben vom 26. September 1991 zum 30. November 1991 wegen häufiger krankheitsbedingter Fehlzeiten. Die Kündigungsfrist entsprach der Regelung des bei der Beklagten geltenden Manteltarifvertrages vom 21. Januar/23. Januar/26. Februar 1985, eines Haustarifvertrages (MTV). Nach § 15.1.1 beträgt die Kündigungsfrist für den Arbeiter 14 Kalendertage und für den Angestellten sechs Wochen zum Schluß eines Kalendervierteljahres; durch die Beklagte kann das Arbeitsverhältnis nach § 15.1.2 MTV gegenüber Arbeitern bei einer Werkszugehörigkeit bis zu fünf Jahren spätestens am 15. eines Monats zum Monatsende gekündigt werden; die Kündigungsfrist erhöht sich:
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bis zum vollendeten 50. Lebensj. |
nach dem vollendeten 50. Lebensj. |
nach einer Werkszugehörigkeit von |
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5 Jahren |
auf 3 Wochen |
auf 6 Wochen |
nach einer Werkszugehörigkeit von |
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8 Jahren |
auf 5 Wochen |
auf 10 Wochen |
nach einer Werkszugehörigkeit von |
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10 Jahren |
auf 7 Wochen |
auf 14 Wochen |
nach einer Werkszugehörigkeit von |
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12 Jahren |
auf 9 Wochen |
auf 18 Wochen |
Gegenüber Angestellten kann die Beklagte nach der gleichen Tarifbestimmung bei einer Werkszugehörigkeit bis zu 5 Jahren mit einer Kündigungsfrist von 6 Wochen zum Schluß eines Kalendervierteljahres kündigen. Die Kündigungsfrist erhöht sich:
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bis zum vollendeten 50. Lebensj. |
nach dem vollendeten 50. Lebensj. |
nach einer Werkszugehörigkeit von |
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5 Jahren |
auf 3 Monate |
auf 6 Monate |
nach einer Werkszugehörigkeit von |
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8 Jahren |
auf 4 Monate |
auf 7 Monate |
nach einer Werkszugehörigkeit von |
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10 Jahren |
auf 5 Monate |
auf 8 Monate |
nach einer Werkszugehörigkeit von |
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12 Jahren |
auf 6 Monate |
auf 9 Monate |
Der Kläger hat ursprünglich geltend gemacht, die Kündigung sei sozial nicht gerechtfertigt und der Betriebsrat sei nicht ordnungsgemäß angehört worden. In der Berufungsinstanz hat der Kläger nur noch geltend gemacht, die von der Beklagten eingehaltene Kündigungsfrist verstoße gegen den Gleichheitssatz in Art. 3 Abs. 1 GG. Es liege kein sachlicher Grund für die Differenzierung der Arbeiter- und Angestelltenkündigungsfristen vor; es sei auch nicht offensichtlich, daß die Arbeiter überwiegend in der Produktion tätig seien. Deshalb gelte für ihn dieselbe Kündigungsfrist wie für einen Angestellten, also nach zehnjähriger Betriebszugehörigkeit eine Frist von fünf Monaten. Deshalb sei das Arbeitsverhältnis erst zum 31. März 1992 beendet worden.
Der Kläger hat weiter behauptet, seine Berufungsbegründung sei entgegen dem Eingangsstempel vom 14. August 1992 bereits am Vortage beim Landesarbeitsgericht eingegangen, also rechtzeitig.
Der Kläger hat beantragt
festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung der Beklagten nicht zum 30. November 1991, sondern erst zum 31. März 1992 beendet worden sei.
Die Beklagte hat sich mit ihrem Klage abweisungsantrag auf die Kündigungsregelung in § 15.1.2 MTV berufen, die sie für verfassungskonform hält. Der Sachgrund für die unterschiedlichen Kündigungsfristen von Arbeitern und Angestellten liege im Flexibilitätsbedürfnis im produktiven Bereich. Sie brauche die kürzeren Kündigungsfristen bei Arbeitern, um auf unternehmensbezogene und auch branchenbezogene Konjunktureinbrüche zur Vermeidung von Verlusten schnell reagieren zu können.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat nach Vernehmung des Zeugen D. zur Frage des rechtzeitigen Eingangs der Berufungsbegründung die Berufung zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seinen Antrag weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung an die Vorinstanz, § 565 ZPO.
I. Das Landesarbeitsgericht hat seine Entscheidung im wesentlichen wie folgt begründet: Die Berufung sei zulässig, weil aufgrund der glaubwürdigen Aussage des Zeugen Duschl feststehe, daß der Berufungsbegründungsschriftsatz bereits am 13. August 1992 in den Nachtbriefkasten eingeworfen worden sei. Der Stempel auf druck beweise demgegenüber nichts anderes, zumal es in der jüngeren Vergangenheit einige Fälle gegeben habe, bei denen ein rechtzeitig eingeworfener Schriftsatz erst nach Fristablauf in dem Nachtbriefkasten des Landesarbeitsgerichts entdeckt worden sei.
Die Kündigungsregelung in § 15.1.2 MTV verstoße nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG, weil für die unstreitig eigenständige (konstitutive) Kündigungsregelung der Tarifpartner ein sachlicher Differenzierungsgrund vorliege; dieser bestehe in der ganz überwiegenden Beschäftigung von Arbeitern in der Produktion. Deshalb sei ein besonderes Interesse der Beklagten anzuerkennen, auf Konjunktureinbrüche und auf Auftragsrückgänge unmittelbar und ohne erhebliche Zeitverzögerung reagieren zu können. Zwar blieben die Kündigungsfristen älterer Arbeiter erheblich hinter den Kündigungsfristen älterer Angestellter zurück, eine völlige Gleichstellung verlange Art. 3 Abs. 1 GG jedoch nicht. Es sei auch bemerkenswert, daß die Tarifvertragsparteien in dem ab 1. Januar 1992 geltenden MTV vom 21. November 1991 die Kündigungsfristregelung des früheren Tarifvertrages exakt übernommen hätten, obwohl inzwischen die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Mai 1990 bekannt gewesen sei.
II. Diesen Ausführungen des Berufungsgerichts kann aufgrund der vom Landesarbeitsgericht bisher getroffenen Feststellungen nicht gefolgt werden. Die Revision rügt vielmehr zu Recht, das Landesarbeitsgericht habe keine tatsächlichen Feststellungen dazu getroffen, wie hoch der Anteil von Arbeitern und Angestellten in den jeweiligen Bereichen sei; es sei auch fehlerhaft, wenn das Landesarbeitsgericht davon ausgehe, in der Verwaltung seien 7.819 Arbeiter beschäftigt, was 8,36 % der beschäftigten Arbeiter entspreche. Ferner liege keine Feststellung dazu vor, wie viele Angestellte im Produktionsbereich tätig seien.
1. Was zunächst die Zulässigkeit der Berufung angeht, ist das Landesarbeitsgericht aufgrund ausführlicher Beweiswürdigung zum Ergebnis gekommen, der Berufungsbegründungsschriftsatz sei rechtzeitig beim Landesarbeitsgericht eingegangen. Dies war in der Tat keine Frage eventueller Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 233 f. ZPO), sondern eine von Amts wegen zu ermittelnde besondere Prozeßvoraussetzung. § 519 b ZPO (vgl. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 51. Aufl., Grundz. § 253 Rz 23 b). Diese, den Kläger begünstigende, Entscheidung ist nicht mit einer Gegenrüge der Beklagten angegriffen worden. Revisionsrechtliche Fehler bei der Beweiswürdigung des Berufungsgerichts sind nicht ersichtlich, so daß von der Zulässigkeit der Berufung auszugehen ist.
2. Das Berufungsgericht hat im Ausgangspunkt zutreffend angenommen, der kraft Organisationszugehörigkeit für das Arbeitsverhältnis geltende Manteltarifvertrag vom 21. Januar/23. Januar/26. Februar 1985, der als Haustarifvertrag bei der Beklagten gilt (MTV), enthalte in § 15 eine eigenständige Regelung der Grundkündigungsfristen für Arbeiter.
a) Eine eigenständige Regelung ist regelmäßig anzunehmen, wenn die Tarifvertragsparteien eine im Gesetz nicht oder anders enthaltene Regelung treffen oder eine gesetzliche Regelung übernehmen, die sonst nicht für die betroffenen Arbeitsverhältnisse gelten würde. Für einen rein deklaratorischen Charakter der Übernahme spricht hingegen, wenn einschlägige gesetzliche Vorschriften wörtlich oder inhaltlich übernommen werden (Senatsbeschluß vom 28. Januar 1988 – 2 AZR 296/87 – AP Nr. 24 zu § 622 BGB, zu II 2 c aa der Gründe; Senatsurteil vom 21. März 1991 – 2 AZR 616/90 – AP Nr. 31, a.a.O., zu II 1 der Gründe, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung des Gerichts vorgesehen).
b) Insoweit hat das Berufungsgericht § 15 MTV zutreffend als eigenständige Regelung angesehen, worüber unter den Parteien auch kein Streit herrscht; auch die Revision sieht dies nicht anders.
aa) Die Eigenständigkeit der Regelung über die hier einschlägige Kündigungsfrist für Arbeiter nach zehnjähriger Betriebszugehörigkeit folgt zunächst daraus, daß die Tarifpartner in § 15.1.2 in zulässiger Abweichung (§ 622 Abs. 3 BGB) von der gesetzlichen Regelung von zwei Monaten zum Monatsende (§ 622 Abs. 2 BGB) die Kündigungsfristen schon nach dem Lebensalter differenziert haben, wobei bis zum vollendeten 50. Lebensjahr die hier einschlägige Kündigungsfrist (nach einer Werks Zugehörigkeit von 10 Jahren) sieben Wochen, nach dem vollendeten 50. Lebensjahr jedoch 14 Wochen zum Monatsende beträgt. Die Tatsache, daß die Kündigung auch bei den verlängerten Fristen nur zum Monatsende möglich ist, ergibt sich aus der tariflichen Regelung, wonach die Ausgangskündigungsfrist (bis zu fünf Jahren spätestens am 15. eines Monats zum Monatsende) sich schlicht erhöht. Sowohl die Kündigungsfrist, wie auch – zumindest bei der Grundkündigungsfrist – der Kündigungstermin sind daher abweichend vom Gesetz geregelt. Vom Gesetz unterscheidet sich die tarifliche Fristenregelung schließlich dadurch, daß die Wartezeiten (nach fünf, acht, zehn und zwölf Jahren) der gesetzlichen Angestellten-Fristenregelung in § 2 des Gesetzes über die Fristen für die Kündigung von Angestellten angeglichen sind.
bb) Schließlich enthält die Regelung des § 15 MTV auch insoweit eine Abweichung von den gesetzlichen Bestimmungen der §§ 622 Abs. 2 BGB und 102 Abs. 1 BetrVG, als nach § 15.4 MTV Werksangehörigen, die eine Werkszugehörigkeit von mindestens 25 Jahren haben und über 55 Jahre alt sind, nur mit Zustimmung des Betriebsrats gekündigt werden kann. Diese Bestimmung gilt also unterschiedslos für Arbeiter und Angestellte.
3. Bei dieser Rechtslage hat das Berufungsgericht zutreffend in eigener Kompetenz geprüft, ob die Regelung des § 15.1.2 MTV für Arbeiter und Angestellte mit dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist, an den auch die Tarifvertragsparteien uneingeschränkt gebunden sind (ständige Rechtsprechung, vgl. u.a. Senatsurteil vom 23. Januar 1992 – 2 AZR 470/91 – AP Nr. 37. a.a.O., zu II 2 a der Gründe, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung des Gerichts vorgesehen).
4. Der Senat hat bereits in mehreren Entscheidungen über die Verfassungsmäßigkeit von Kündigungsfristen für Arbeiter in Tarifverträgen befunden (vgl. zuletzt Urteile vom 23. Januar 1992 – 2 AZR 470/91 – AP Nr. 37, a.a.O.; vom 23. Januar 1992 – 2 AZR 460/91 – AP Nr. 36, a.a.O.; vom 23. Januar 1992 – 2 AZR 389/91 – AP Nr. 35, a.a.O., sämtlich zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung des Gerichts vorgesehen; vom 2. April 1992 – 2 AZR 516/91 – AP Nr. 38, a.a.O.; vom 23. September 1992 – 2 AZR 231/92 –, n.v. und Urteil vom 4. März 1993 – 2 AZR 355/92 –, zur Veröffentlichung in der Fachpresse vorgesehen). Danach fehlt es an sachlichen Gründen für unterschiedliche Regelungen, wenn eine Schlechterstellung der Arbeiter nur auf einer pauschalen Differenzierung zwischen den Gruppen der Angestellten und der Arbeiter beruht. Sachlich gerechtfertigt sind dagegen hinreichend gruppenspezifisch ausgestaltete unterschiedliche Regelungen, die z.B. nur eine verhältnismäßig kleine Gruppe nicht intensiv benachteiligen, oder funktions-, brauchen- oder betriebsspezifischen Interessen im Geltungsbereich eines Tarifvertrages mit Hilfe verkürzter Kündigungsfristen für Arbeiter entsprechen (z.B. überwiegende Beschäftigung von Arbeitern in der Produktion), wobei andere sachliche Differenzierungsgründe nicht ausgeschlossen sind. Dieser Prüfungsmaßstab gilt sowohl für unterschiedliche Grundfristen als auch für ungleich verlängerte Fristen für Arbeiter und Angestellte mit längerer Betriebszugehörigkeit und höherem Lebensalter. Zunächst vielleicht erhebliche Unterschiede zwischen Arbeitern und Angestellten hinsichtlich ihrer Schutzbedürftigkeit oder eines betrieblichen Interesses an einer flexiblen Personalplanung und Anpassung verlieren bei längerer Betriebszugehörigkeit erheblich an Gewicht (Senatsurteil vom 29. August 1991 – 2 AZR 820/91 A – AP Nr. 32, a.a.O., zu II 4 c cc der Gründe).
a) Die Revision beanstandet zunächst, die Senatsrechtsprechung billige den Kündigungsregelungen in Tarifverträgen eine gewisse materielle Richtigkeitsgewähr zu; demgegenüber liege es in der Logik der Sache, daß die gesetzliche Regelung gleichzeitig als Strukturvorgabe von den Tarifvertragsparteien übernommen werde, und zwar auch dann, wenn eine konstitutive Kündigungsregelung vorliege. Auch die Tarifpartner seien aber als Grundrechtsträger nach Art. 9 Abs. 3 GG besonders verpflichtet, die Grundrechte ihrer Mitglieder zu schützen und zu wahren.
b) Demgegenüber hält der Senat an der bisherigen Rechtsprechung fest. In seiner Entscheidung vom 21. März 1991 (– 2 AZR 616/90 – AP Nr. 31 zu § 622 BGB, zu II 2 c der Gründe, zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung des Gerichts vorgesehen) hat der Senat ausgeführt, nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts dürften zwar die Tarifvertragsparteien den Grundrechten der Normunterworfenen einerseits keine engeren Grenzen ziehen, als dies dem Gesetzgeber erlaubt sei (seit BAGE 1, 258 = AP Nr. 4 zu Art. 3 GG; BAG Urteil vom 6. Februar 1985 – 4 AZR 370/83 – AP Nr. 16 zu § 4 TVG Übertarif 1. Lohn und Tariflohnerhöhung, m.w.N.), und weitergehende Eingriffsbefugnisse könnten insbesondere nicht aus Art. 9 Abs. 3 GG hergeleitet werden; andererseits müßte es den Tarifparteien wegen der durch die Verfassung garantierten Tarifautonomie überlassen bleiben, in eigener Verantwortung unter Umständen Zugeständnisse in einer Hinsicht mit Vorteilen in anderer Hinsicht auszugleichen (BAGE 28, 14, 18 f. = AP Nr. 40 zu § 242 BGB Gleichbehandlung, zu 2 der Gründe; BAGE 38, 118 = AP Nr. 47, a.a.O.). Die Norm des Art. 9 Abs. 3 GG schütze die Koalitionen vor staatlichen Eingriffen und gegenüber Dritten. Es sei daher bereits im Ansatz verfehlt, das Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG gegen das aus Art. 3 Abs. 1 GG abzuwägen und etwa dem aus Art. 9 Abs. 3 GG das größere Gewicht zu verleihen. Zwar spreche bei allgemeinen tariflichen Regelungen die Vermutung für einen sachgerechten Interessenausgleich; das gelte aber für die Frage der sachgerechten Differenzierung von Kündigungsfristen der Arbeitnehmer, wie auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluß vom 30. Mai 1990 ausgeführt hat (vgl. dazu BVerfGE 82, 126, 149 = AP Nr. 28 zu § 622 BGB, zu C I 4 c der Gründe), nur eingeschränkt.
Der Senat hat also genau dem Anliegen der Revision Rechnung getragen, nicht undifferenziert und pauschal eine Richtigkeitsgewähr für die Sachgerechtheit von tariflichen Kündigungsfristenregelungen anzunehmen. Der Senat hat aber ergänzend darauf hingewiesen – und auch daran ist festzuhalten –, daß es einen Unterschied mache, ob der Gesetzgeber für die Großgruppen aller Arbeiter und Angestellten oder die Tarifparteien nur für die Arbeitnehmer einer bestimmten Branche Regelungen träfen (BVerfGE 82, 126, 154 = AP, a.a.O.); wegen der Gleichgewichtigkeit der Tarifparteien sei jeweils dann, wenn sich dafür konkrete Anhaltspunkte ergäben, davon auszugehen, daß bei einer Gesamtbetrachtung der Regelungen die Arbeitnehmerinteressen angemessen berücksichtigt würden; insoweit bestehe eine materielle Richtigkeitsgewähr für die tariflichen Regelungen, indem sie die Vermutung für sich hätten, daß sie den Interessen beider Seiten gerecht würden und keiner Seite ein unzumutbares Übergewicht vermittelten (Senatsurteil vom 23. Januar 1992 – 2 AZR 389/91 – AP Nr. 35, a.a.O., zu II 5 a der Gründe).
c) In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß die Tarifpartner des vorliegenden Manteltarifvertrages schon eine gewisse Angleichung der Kündigungsfristenregelung für Arbeiter an die für Angestellte vorgenommen haben. Dies zeigt sich zunächst, worauf oben bereits in anderem Zusammenhang eingegangen wurde, in einer Annäherung der Kündigungstermine, nämlich bei Arbeitern auch schon in der Grundkündigungsfrist zum Monatsende und bei Angestellten zum Schluß eines Kalendervierteljahres. Vor allem aber ist eine Angleichung hinsichtlich der Wartezeiten erfolgt, indem im Tarifvertrag die für Angestellte geltenden gesetzlichen Wartezeiten von fünf, acht, zehn und zwölf Jahren für die Arbeiter übernommen worden sind. Schließlich gilt das Zustimmungsbedürfnis des Betriebsrats nach 25 jähriger Werkszugehörigkeit und bei einem Alter über 55 Jahre unterschiedslos für alle Werksangehörigen, gleichgültig ob sie Arbeiter oder Angestellte sind. Dies alles belegt, daß konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, die Tarifpartner hätten die Arbeiterinteressen nicht vernachlässigt. Insoweit teilt der Senat die Auffassung des Landesarbeitsgerichts, daß der Neuabschluß des Tarifvertrages vom 21. November 1991 mit der gleichen Kündigungsfristenregelung ebenfalls nur dahin verstanden werden kann, die Tarifpartner hätten in Kenntnis der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der bis dahin bereits vorliegenden zahlreichen Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts aus wohl erwogenen Gründen an unterschiedlichen Fristenregelungen für Arbeiter und Angestellte festgehalten. Der Rechtsargumentation der Revision ist daher insoweit nicht zu folgen.
d) Wie schließlich für den vorliegenden Haustarifvertrag zu berücksichtigen ist, wird durch ihn nur eine verhältnismäßig kleine Gruppe von Arbeitern – jedenfalls im Vergleich zu einer gesetzlichen oder branchenmäßigen tariflichen Regelung – betroffen. Ein Haustarifvertrag betrifft nur einen gegenüber einem Branchentarifvertrag weiter eingeschränkten, bestimmten Ausschnitt aus dem Gesamtspektrum der Arbeitnehmerschaft. Gerade in diesem eingeschränkten Rahmen besteht – auch bei gleicher Normqualität der Tarifverträge – noch mehr als bei allgemeinen tariflichen Regelungen eine Richtigkeitsgewähr für die getroffene Bestimmung über Kündigungsfristen.
5. Allerdings ist der Revision insoweit Recht zu geben, als der vom Landesarbeitsgericht angeführte sachliche Grund zur Differenzierung der Kündigungsfristenregelung in Gestalt einer überwiegenden Beschäftigung von Arbeitern in der Produktion durch tatsächliche Feststellungen (noch) nicht ausreichend belegt ist.
a) Zwar geht das Landesarbeitsgericht in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Senats davon aus, daß eine überwiegende Beschäftigung von Arbeitern in der Produktion ein besonderes Interesse der Beklagten begründen könnte, auf Konjunktureinbrüche und Auftragsrückgänge unmittelbar und ohne erhebliche Zeitverzögerung reagieren zu können. Die „überwiegende” Beschäftigung von Arbeitern in der Produktion setzt aber denknotwendig Feststellungen dazu voraus, wie viele Angestellte ihrerseits in der Produktion bzw. im Verwaltungsbereich tätig sind, wozu aber keine Feststellungen des Landesarbeitsgerichts vorliegen. Wie viele Angestellte überhaupt bei der Beklagten tätig sind und unter den Geltungsbereich des Haustarifvertrages fallen, ist nicht festgestellt. Auch wird der noch im Tatbestand des Berufungsurteils erwähnte Umstand, auch im Verwaltungsbereich seien 7.819 Arbeiter beschäftigt, nicht in ein Verhältnis zu entsprechenden Angestelltenziffern gestellt, abgesehen davon, daß bei 7.819 Arbeitern der erwähnte Prozentsatz von 8,36 sich rechnerisch nicht auf die Zahl von 93.494 Arbeitern beziehen kann. Sollte sich die Zahl von 8,36 % der im Verwaltungsbereich tätigen Arbeiter auf alle Beschäftigten der Beklagten beziehen, spräche dies in der Tat dafür, daß ganz überwiegend Angestellte im Verwaltungsbereich tätig wären und die relativ kleine Anzahl ebenfalls dort tätiger Arbeiter aus Gründen zulässiger Pauschalierung vernachlässigt werden kann.
b) Der Senat hat im Urteil vom 4. März 1993 (– 2 AZR 355/92 –, zur Veröffentlichung in der Fachpresse bestimmt) entschieden, werde die Verfassungswidrigkeit tariflicher Kündigungsfristen von einer Partei angesprochen oder vom Gericht bezweifelt, so hätten die Arbeitsgerichte nach den Grundsätzen des § 293 ZPO von Amts wegen die näheren für die unterschiedlichen Kündigungsfristen maßgeblichen Umstände, die für und gegen eine Verfassungswidrigkeit sprächen, zu ermitteln. Der Senat hat dies damit begründet, bei dem Tarifrecht handele es sich kraft des Tarifvertragsgesetzes um von den Tarifvertragsparteien gesetztes autonomes Recht, daß als statutarisches Recht nach den Grundsätzen des § 293 ZPO zu behandeln sei; dies bedeute, daß die Beurteilung der tariflichen Kündigungsfristen nicht von der Frage der Darlegungs- und Beweislast abhänge.
Ausgehend von dieser Senatsrechtsprechung liegt der Fehler des Berufungsgerichts darin, nicht von Amts wegen die für und gegen die Verfassungswidrigkeit sprechenden Umstände vollständig aufgeklärt zu haben. Die Schlußfolgerung des Berufungsgerichts, § 15.1.2 MTV sei verfassungsgemäß, beruht daher auf einer unzureichenden Tatsachengrundlage, ohne daß der Senat in der Sache abschließend selbst entscheiden kann. Denn es ist auch angesichts des Amtsermittlungsgrundsatzes nicht Aufgabe des Revisionsgerichts, von sich aus erst Tatsachenmaterial zutage zu fördern, um dies dann einer erstmaligen und abschließenden Würdigung zu unterziehen. Insofern liegt der Sachverhalt anders, als in dem dem Rechtsstreit 2 AZR 355/92 zugrundeliegenden Fall, in dem das Tatsachenmaterial vollständig vorgetragen und nach Auffassung des Senats lediglich eine abschließende Auskunft der Tarifpartner einzuholen war. Den Parteien ist deshalb Gelegenheit zugeben, ihrerseits ergänzend Tatsachenmaterial vorzutragen, dies auszuwerten und eine neue Entscheidung des Berufungsgerichts herbeizuführen.
Unterschriften
Hillebrecht, Bitter, Bröhl, Brocksiepe, Walter
Fundstellen